Chantal Akerman (1950–2015): Mit geerbtem Schmerz ins Trauma geboren
Letzte Woche nahm sich die belgische Regisseurin Chantal Akerman das Leben. Mit «No Home Movie» war sie eben noch zu Gast im Wettbewerb von Locarno. Der Direktor des Festivals erinnert sich.
Ich sehe mir die Gesichter an, die die letzte Ausgabe unseres Festivals mit Leben erfüllten. Die meisten von ihnen lächeln. So sollte es sein, Festivals sind Orte der Freude. Heute aber kommen mir diese lächelnden Gesichter düster vor. Sie machen mir Angst, fast wie Grimassen.
Ich kann nicht anders, als diese Gesichter mit Chantals ehrlichem Lächeln zu überblenden, nach der Vorführung ihres Films «No Home Movie». Sie schlug ihre grossen grünen Augen auf und sagte mir: «Das ist gut gelaufen, nicht?» Ich habe Ja gesagt. Und es war wirklich gut gelaufen, denn ihr Film wurde gut aufgenommen im grossen Saal des Fevi – ein Film, so erschütternd, dass es einem manchmal schwerfällt, den Zugang zu finden.
Heute, da sie nicht mehr bei uns ist, denke ich zurück an jenen Moment der Freude, den sie mit uns geteilt hat, als sie sagte: «Ich bin glücklich, hier zu sein.» Ich sage mir, dass ich meine Schüchternheit überwinden und sie hätte umarmen sollen.
Was mir also bleibt, ist ihr Film. Mir bleibt das Bild dieses kleinen Baums, der – allein in der Wüste – den Windböen trotzt. Heute erfüllt mich dieses Bild mit Zärtlichkeit.
Ein Akt der Liebe
Ich denke daran, was sie über ihre Mutter geschrieben hat – das ewige Thema ihrer Filme. «Ich fand immer, dass meine Mutter die schönste war und dass sie mich und sich selbst wie verrückt liebte. Dann begriff ich, dass sie nur sich selbst lieben konnte, aber eben doch nicht ganz. Sie hatte das lernen müssen, um im Lager überleben zu können. Sich lieben, um zu überleben. Das ist eine Kraft.»
Ihr Film ist ihre Hommage an diese Kraft. «No Home Movie» ist ein Akt der Liebe einer Tochter für ihre Mutter, einer Liebe, die stärker ist als alles. Und wenn der Film so sehr auf die Mutter ausgerichtet ist, kann man hier versuchen, den Blick auf ihr Gegenüber zu richten, diese Tochter, die es nicht schaffte, sich so sehr zu lieben, dass sie hätte überleben können – ihre Eltern überleben, die den Nazis entkommen sind; und diesen geerbten Schmerz überleben. «Ich wurde ins Trauma geboren.» Chantal hat diese Wunde auf sich getragen: Seit ihrem ersten Kurzfilm «Saute ma Ville» (1968), wo sich die Protagonistin in die Luft sprengt, nachdem sie die Wohnung zerstört hat, begleitet der Tod alle ihre Filme, direkt oder auch ausserhalb des Bildes. Ich denke zum Beispiel an «De l’autre Côté» (2002), ein Roadmovie an der Grenze zwischen Mexiko und den USA, oder an «Sud» (1999), eine Reise auf den Spuren eines rassistisch motivierten Mordes in den Südstaaten.
Aber kommen wir auf das Haus zurück, das ihr Werk öffnet und schliesst. Es fliegt in die Luft in ihrem ersten Film, und es bleibt stehen wie ein Grabstein am Ende ihres letzten. Chantal – die mit achtzehn Jahren ohne Geld nach Paris ging und gleichzeitig an mehreren Orten lebte, vielleicht verfolgt von der Erfahrung des Exils – wird immer eine Malerin des Hauses bleiben, das zugleich Hafen und Gefängnis ist. In «No Home Movie» spricht sie aus einem Hotelzimmer mit ihrer Mutter, die bei sich daheim ist. Sie spricht, um die Distanz zu überwinden: Der Film zeichnet eine gerade Linie der Sehnsucht, einer Sehnsucht, bei der Mutter zu sein, im gleichen Haus zu sein, während man gleichzeitig versteht, dass das nicht möglich ist.
Ich gehe rückwärts die Notizen durch, die ich zu ihren Filmen gemacht habe. Ich finde darin etwas Wiederkehrendes, ich nenne es «Präsenz», aber ich merke, dass es mir schwerfällt, es zu definieren. Ausgangspunkt ist die aufwühlende Entdeckung von «Jeanne Dielman» (1975), einem Film, der wenig bietet: wenig, was wuchtige Bilder betrifft, weil die Geschichte sich in einem Haus abspielt, aber auch wenig, was die Geschichte selbst angeht, mit ihren Tragödien und melodramatischen Elementen, die hinter der Protagonistin beben. Der Film hat eine singuläre Kraft: Er wächst sehr schnell, nachdem man ihn gesehen hat. So ist das mit den meisten ihrer Filme: Wenn sie fertig sind, fangen sie an, in uns zu arbeiten.
In der Zone des Unsichtbaren
Ich finde einen weiteren Satz. «Meine Art, zu filmen, ist näher beim Heiligen als beim Götzendienst. Ich müsste mich in dieser Hinsicht besser erklären können, aber ich glaube, das wird mir nie gelingen.»
Was mich an Chantal beeindruckt, ist gerade dieser Platz, den sie dem Mysterium einräumt; es ist ein Mysterium des Seins, das jeder Aktion vorausgeht. Das ist nicht allein der Dauer ihrer Einstellungen geschuldet, die das Mass der traditionellen Erzählweise übersteigt; da ist etwas anderes, was dazu führt, dass eine Einstellung bei ihr immer mehr ist als eine Darstellung. Ihre Einstellungen machen betroffen, sie verlangen vom Zuschauer, dass er nicht einfach ein Voyeur ist; sie fordern eine Teilnahme. Bei den Bildern zu sein.
Bei Akerman ist das Bild etwas Heiliges, weil es im Dasein verankert ist und weil es über das hinausgeht, was wir sehen; so erreichen wir eine Zone, die uns kostbar ist, gerade weil sie unsichtbar ist. Dagegen erinnert der Grossteil der Bilder heute an das Goldene Kalb. Sie glänzen, aber sie sind leer. Darum fehlt uns Chantal schon so sehr.
Aus dem Französischen von Florian Keller.
Carlo Chatrian (43) ist Direktor des Filmfestivals in Locarno. Der gebürtige Turiner lebt mit seiner Familie im Aostatal.