Locarno-Direktorin: «Das klang für mich immer etwas morbid»
Es geht vorwärts in Locarno: Lili Hinstin, die neue künstlerische Leiterin des Filmfestivals, über erste Tränen im Kino, die symbolische Macht von Netflix – und über Filme, mit denen sie gar nichts anfangen kann.
WOZ: Lili Hinstin, die ersten drei Preisträger des Locarno Film Festival, die Sie verkündet haben, sind John Waters, Fredi M. Murer und Song Kang-ho. Also ein Bürgerschreck der Trashkultur, ein Liebling des Schweizer Films sowie ein Star des asiatischen Kinos – und lauter Männer.
Lili Hinstin: Ja, ich weiss. Ich habe sehr viele Frauen eingeladen, aber die konnten nicht. Das wirft natürlich Fragen auf, es zeigt sich hier eine Differenz zwischen den Geschlechtern. Fast alle Frauen, die ich einladen wollte, sagten entweder wegen der Arbeit ab oder weil sie in den Ferien sind und Zeit mit der Familie verbringen möchten. Was schliessen wir daraus? Männer haben ja nicht weniger Familie als Frauen. Aber vielleicht stecken wir immer noch in einem geistigen Schema fest, nach dem für eine Frau das Privatleben über allem steht und sie in den Ferien bei der Familie bleibt. Männer scheinen eher bereit zu sein, für eine öffentliche Ehrung die Ferien zu unterbrechen und ihre Familie auf einer griechischen Insel zurückzulassen.
Als Direktorin eines grossen Festivals brauchen Sie einen breit gefächerten Geschmack. Gibt es Genres, mit denen Sie nichts anfangen können?
Nein, ich liebe zum Beispiel romantische Komödien sehr, etwa «The Proposal» mit Sandra Bullock. Klar gibt es Filme, bei denen ich völlig aussen vor bleibe. Aber nur weil sie sich mir nicht erschliessen, heisst das nicht, dass ich sie nicht programmieren würde – diese Arbeit geschieht im Kollektiv. Aber nehmen wir zum Beispiel Baz Luhrmann, den Regisseur von «Moulin Rouge»: Bei dieser Repräsentation à la Disneyland komme ich nicht mit. Vielleicht liegt das auch daran, dass ich Pariserin bin. Aber das ist ein Blick auf die Welt, mit dem ich nichts anfangen kann – total klischiert und triefend vor Zynismus.
Was ist Ihre erste starke Erinnerung ans Kino?
Ich bin ohne Fernseher aufgewachsen. Meine frühesten Erinnerungen sind deshalb die Filme, die ich in den Ferien bei meinen Grosseltern gesehen habe: «Der kleine Lord», «The Sound of Music», «Der schwarze Hengst» und «Spuren im Sand» von John Ford, mein Lieblingsfilm damals. Mein erstes starkes Kinoerlebnis war dann «Mean Streets» von Martin Scorsese, da war ich etwa dreizehn Jahre alt. Da habe ich erstmals so richtig gespürt, was diese Kunst emotional auslösen kann. Und das erste Mal geweint habe ich im Kino bei einem Film, der jetzt in der Retrospektive «Black Light» zu sehen ist: Das war «Boyz n the Hood» von John Singleton. Der hat mich wirklich aufgewühlt damals.
Wagen wir einen Flashback ins Jahr 1992. Sie sind ein Teenager, im Kino laufen die neuen Filme zweier Regisseure, die Jahre später in Locarno geehrt werden: «La vie de bohème» von Aki Kaurismäki und «Basic Instinct» von Paul Verhoeven. Für welchen entscheiden Sie sich, damals mit fünfzehn Jahren?
Ich erinnere mich gut an den Skandal um «Basic Instinct». Alle sprachen nur darüber, ob man in der Szene, wo Sharon Stone die Beine spreizt, ihr Geschlecht sieht oder nicht. Aber ich war damals noch zu jung und durfte den Film nicht sehen (lacht). Als ich ihn dann einige Jahre später sah, konnte ich die ganze Aufregung nicht wirklich nachvollziehen. «La vie de bohème» von Kaurismäki habe ich auch erst später gesehen. Mit fünfzehn Jahren geht man ja ins Kino, weil man mit seinen Copains ausgehen will. Da willst du dir nicht den neuen Kaurismäki anschauen, sondern du versuchst vor allem, in die Filme reinzukommen, für die du noch zu jung bist. «Flatliners» mit Kiefer Sutherland war so ein Film. Oder auch «Clockwork Orange», der damals wieder in die Kinos kam.
Waren Sie schon Stammgast in Locarno, bevor Sie sich für die Nachfolge von Carlo Chatrian beworben haben?
Ja, jedes Jahr, seit etwa sieben Jahren.
Wenn ich Sie als Besucherin frage: Was zeichnet Locarno gegenüber anderen Festivals aus, abgesehen von der Piazza?
Locarno ist kein Festival für ein reines Fachpublikum, hier trifft ein avanciertes, radikales Programm auf ein grosses Publikum. Klar kommen auch viele Leute aus der Branche, aber die Filme werden hier von unglaublich vielen Menschen gesehen – der Traum jeder Programmleiterin, fast schon utopisch. Das Publikum in Locarno ist neugierig und grosszügig. Dazu kommt die unvergleichliche Atmosphäre einer Kleinstadt im Sommer, mit dem See und den Bergen. Und man läuft ständig den Filmleuten über den Weg, sehr unkompliziert alles. Deshalb sind Festivals in einer kleinen Stadt immer schöner als solche in einer Grossstadt.
Sind Sie schon mit den obligaten Klagen vertraut, mit denen sich jede neue Direktion in Locarno herumschlagen muss?
Nein, was meinen Sie?
Wollen Sie raten?
Also, gegen die Hitze und die Gewitter können wir nichts ausrichten. Die Stühle vielleicht, die nicht bequem genug sind?
Vielleicht auch. Ich dachte eher daran, dass Locarno ein Terminproblem hat. Die besten Filme bleiben für Locarno unerreichbar, weil die auf eine Einladung nach Venedig hoffen.
Stimmt, der Termin ist nicht einfach, vor allem auch wegen der Ferien. In Italien haben sie Ferragosto, der ist heilig. Es ist ein wenig, wie wenn man ein Festival während der Weihnachtstage veranstalten würde.
Und die Konkurrenz mit anderen Festivals?
Das hängt natürlich davon ab, was für Sie die «besten» Filme sind. Klar ist die Konkurrenz für die grossen Produktionen mit internationalen Stars sehr hart, und wir haben nicht immer die besten Karten. Und klar wäre es ein Erfolg, wenn wir auf der Piazza den neuen Film eines Martin Scorsese oder Alfonso Cuarón zeigen könnten. Aber vielleicht hat Locarno auch eine etwas andere Mission. Im Wettbewerb jedoch sehe ich uns nicht in Konkurrenz zu anderen Festivals: Da entwerfen wir unsere eigene Kartografie der Gegenwart, wir haben ganz andere Ambitionen als etwa Venedig oder Toronto. Für mich sind die Filme, die wir zeigen, die besten.
Noch eine obligate Klage: Die Piazza Grande mag zauberhaft sein, aber sie ist ein schwieriges Pflaster. Hier kann man es niemandem recht machen: Jeder Film ist entweder zu massentauglich oder nicht populär genug.
Wir haben nur Filme ausgewählt, die wir wirklich, wirklich lieben, das war mir das Wichtigste im ersten Jahr – Filme mit einer klaren künstlerischen Haltung, aber fürs grosse Publikum. Ich hoffe, es funktioniert.
Ihrem Vorgänger Carlo Chatrian lag die Sektion «Signs of Life» am Herzen, die Sie jetzt umgetauft haben. Neu heisst sie «Moving Ahead» …
Die Equipe von Carlo fand das natürlich schade. Aber ich mochte den Namen «Signs of Life» nicht, das klang für mich immer etwas morbid: Als würden wir mitten in einer Wüste stehen, aus der jedes Leben verschwunden ist, und ganz weit weg taucht ein kleines Zeichen am Horizont auf. Also eher deprimierend. Wir haben dann mit der ganzen Equipe nach einem neuen Namen gesucht. Und während wir darüber nachdachten, ist Regisseur Jonas Mekas gestorben. Einer seiner Filme heisst «As I Was Moving Ahead Occasionally I Saw Brief Glimpses of Beauty». In diesen Worten schwingt gleichzeitig eine Bewegung und die Zukunft mit – ideal, um das Profil dieser Sektion zu beschreiben.
Wie halten Sie es mit den Streamingriesen wie Netflix? Das Festival in Cannes versucht ja, sich dagegen abzuschirmen. Finden Sie das richtig?
Man sollte sich nicht davor verschliessen. Man muss diese neuen Entwicklungen beobachten und sich gut überlegen, wie man damit umgeht. Cannes ist dem politischen Druck einer sehr mächtigen einheimischen Filmindustrie ausgeliefert – und mächtig ist sie, weil sie eben sehr gesund ist und gut funktioniert. Diese Branche will sich schützen, das ist legitim. Netflix hat extrem viel Geld und ist ebenfalls sehr mächtig – wobei diese Macht vor allem auch symbolisch ist, ein Effekt des Storytellings, das Netflix betreibt. Viele Leute glaubten zum Beispiel, «Roma» von Alfonso Cuarón sei von Netflix produziert worden – was nicht der Fall ist. Ich glaube auch nicht, dass die Kinos verschwinden werden. Ich habe mein Leben dem Kino gewidmet, das will ich teilen, gerade auch mit jungen Generationen. Ich möchte nicht, dass alle nur noch vor ihren kleinen Displays sitzen und allein ihre Filme schauen. Das ist nicht meine Vision der Zukunft.
Festivals erleben einen Boom, gleichzeitig läuft den Kinos das Publikum davon. In Locarno sehen sich die Leute Filme an, für die sie daheim in Zürich oder Bern kaum ins Kino gehen würden. Ist das ein Problem?
Festivals sind immer eine Gelegenheit für Filme, die sonst vielleicht keinerlei Sichtbarkeit hätten, weil die Konkurrenz zu stark ist. Ich kenne die Situation in der Schweiz noch nicht gut genug, aber in Frankreich starten jede Woche um die fünfzehn Filme, das ist enorm viel.
Das ist hier nicht anders.
Nicht einmal ich schaffe es, alle zu sehen, und dabei ist das mein Beruf. Die Verleiher und die Kinobetreiber müssen sich dringend überlegen, wie sie aus dieser Express-Auswertungsspirale herauskommen. Die Filme haben unter diesen Bedingungen keine Chance – sie brauchen mehr Zeit, um ihr Publikum zu finden.
Lili Hinstin
Die heute 42-jährige Pariserin studierte Literatur- und Kulturwissenschaften in Paris und Padua, 2001 gründete sie eine Filmproduktionsfirma. Später war sie mitverantwortlich für ein Dokumentarfilmfestival im Centre Pompidou in Paris, zuletzt leitete sie fünf Jahre lang das Filmfestival Entrevues in Belfort. In Locarno folgt Lili Hinstin auf Carlo Chatrian, der von der Berlinale abgeworben wurde. Sie ist nach Irene Bignardi (2001–2005) erst die zweite Frau an der Spitze des Filmfestivals.