Nigeria: Der Hoffnungsträger enttäuscht die Bevölkerung

Nr. 45 –

Unter dem neuen nigerianischen Präsidenten Muhammadu Buhari tritt der Kampf gegen Boko Haram auf der Stelle.

Ende März haben Nigerias WählerInnen Präsident Goodluck Jonathan abgewählt. Seitdem liegen die Hoffnungen auf seinem Nachfolger Muhammadu Buhari: Er soll die massive Korruption im Land besiegen, die Wirtschaft in Gang bringen und Arbeitsplätze schaffen. Primär aber erhoffen sich die NigerianerInnen ein Ende des Terrors von Boko Haram – der Gruppe, die nach eigenem Bekunden für einen Gottesstaat kämpft und Mitte März dem Islamischen Staat (IS) die Treue geschworen hat. Dass Buhari bis heute kein Kabinett hat, das dem Kampf gegen die Terrormiliz den Weg ebnen könnte, enttäuscht selbst die PragmatikerInnen unter Buharis AnhängerInnen. Auf der Strasse wird Buhari bereits «Baba Go-slow» genannt, Papa Langsam. Mit jedem Tag, der vergeht, wächst in der Bevölkerung die Enttäuschung.

Dabei hatte Buhari gleich nach seiner Wahl ein ehrgeiziges Ziel verkündet: Bis Ende Dezember werde Boko Haram besiegt sein. «Mit Beginn der Regenzeit werden wir Boko Haram aus dem Hinterhalt gelockt haben», bekräftigte er sein Ziel Mitte Oktober gegenüber dem Fernsehsender al-Dschasira. «Die Angriffe auf Dörfer und Militäreinrichtungen werden dann ein Ende haben.» Nach Buharis Amtsantritt Ende Mai verkündete Militärsprecher Chris Olukolade fast täglich Erfolge im Kampf gegen den Terrorismus. Ende Juli feuerte ihn Buhari – vielleicht, weil den angeblichen Erfolgen des Militärs immer mehr Anschläge gegenüberstanden. Nach Schätzungen von Amnesty International hat Boko Haram seit Buharis Amtsantritt mindestens 1600 Menschenleben auf dem Gewissen, zusätzlich zu den 1900 seit Jahresanfang. In den vergangenen sechs Jahren soll die Gruppe mehr als 20 000 Menschen getötet haben. Nicht nur im Norden des Landes, wo Boko Haram herkommt, sprengen sich Selbstmordattentäter (und immer mehr Selbstmordattentäterinnen) in die Luft. Auch in der Hauptstadt Abuja mehren sich die Anschläge.

Verpuffte Warnungen

Die Glaubwürdigkeit des einstigen Militärdiktators Buhari, dem die WählerInnen als Muslim aus dem Norden den Sieg gegen Boko Haram zugetraut haben, gerät ins Wanken. Vor zwei Wochen schaltete das Militär landesweit Anzeigen in Tageszeitungen: «Dies ist die letzte Warnung an alle Boko-Haram-Terroristen, von allen Terrorakten abzusehen, sich zu stellen und dem Gesetz zu überantworten», heisst es schwülstig in dem Text, den Olukolades Nachfolger Sani Usman unterzeichnet hat. «Wir kennen eure Verstecke, Camps und Rückzugsräume.» Einziger Schönheitsfehler des Ultimatums: Es handelt sich bereits um das dritte dieser Art. «Die bisherigen Warnungen hatten keinerlei Effekt», sagt der nigerianische Journalist Ibanga Isine.

Im Kampf gegen Boko Haram setzt Buhari inzwischen offenbar vor allem auf Unterstützung von aussen. Bei einem Sondergipfel zur Terrorbekämpfung, zu dem US-Präsident Barack Obama Anfang Oktober am Rand der Uno-Generalversammlung in New York geladen hatte, warnte Buhari, Nigeria könnte Opfer der Krise in Syrien und im Irak werden. «Die Entscheidung von Boko Haram, sich dem sogenannten Islamischen Staat anzuschliessen, kann man einerseits als Zeichen der wachsenden Schwäche der Gruppe interpretieren», so Buhari, «andererseits aber auch als strategischen Schritt, um Unterstützung vom IS zu gewinnen.» Seit dem Treueschwur von Boko-Haram-Chef Abubakar Shekau hätten Massenhinrichtungen und Köpfungen im IS-Stil dramatisch zugenommen.

Unterstützung von aussen

«Wir müssen mehr tun», sagte Muhammadu Buhari am Uno-Sondergipfel. «Wir brauchen militärische Offensiven und effektive Grenzkontrollen, mehr geheimdienstliche Erkenntnisse und bessere Polizeiarbeit. Selbst das wird möglicherweise nicht ausreichen, könnte aber immerhin den Trend neuer Rekrutierungen im In- und Ausland umkehren.» Das klang wie ein Offenbarungseid. Über angebliche Ultimaten verlor der Präsident in New York kein Wort. Stattdessen rief er die Staatengemeinschaft auf, Nigeria beim Kampf gegen Boko Haram zu unterstützen – bei der Aufdeckung illegaler Finanzflüsse ebenso wie militärisch.

Doch genau damit tut sich die internationale Gemeinschaft schwer: Obwohl Buharis Wahl in den meisten westlichen Hauptstädten als Meilenstein und Wendepunkt gefeiert wurde, haben etwa die USA seither nur ein paar Aufklärungsdrohnen und die dazugehörigen 300 SoldatInnen versprochen. Stationiert werden sie indessen nicht in Nigeria, sondern im Nachbarland Kamerun. Denn Nigerias Militär gilt nicht nur als korrupt. Es gilt als kaum weniger brutal und geht ebenso willkürlich vor wie Boko Haram.

Brutales Militär

Amnesty International schätzt, dass mindestens 7000 Männer und Jungen in Militärgewahrsam auf verschiedene Weise ums Leben kamen. Noch einmal 1200 sollen in den vergangenen drei Jahren rechtswidrig hingerichtet worden sein. Die Verantwortlichen sässen ganz oben in der Militärführung, kritisiert Amnesty-Chef Salil Shetty unter Berufung auf interne Unterlagen des Militärs. Darin haben Armeeangehörige zu Protokoll gegeben, seit Beginn der Grossoffensive gegen Boko Haram vor einem Jahr würden kaum noch Menschen festgenommen, sondern gleich getötet. «Die Soldaten gehen in den nächsten Ort und schlachten die Jugendlichen ab», wird in den besagten Papieren ein Militär zitiert. «Die Toten können auch unschuldig oder unbewaffnet sein.» Dazu Shetty: «Viele Jahre lang haben die nigerianischen Behörden alle Vorwürfe heruntergespielt. Aber ihre eigenen internen Unterlagen können sie nicht von der Hand weisen.»

Solche Massaker belegen die Hilflosigkeit des Militärs. Der Armee fehlt dreizehn Jahre nach der Gründung von Boko Haram immer noch das nötige Insiderwissen, um die Gruppe gezielt bekämpfen zu können. Das liegt für den nigerianischen Sicherheitsexperten Fulan Nasrullah an der komplexen Struktur der Gruppe, die sich früh in eigenständigen Zellen organisiert hat. Die Organisation schützt sich aber auch durch aktive Korruption. «Politische und militärische Eliten, die Boko Haram gefördert, unterstützt oder von ihren Attentaten profitiert haben, achten sehr darauf, dass interne Informationen nicht bekannt werden», so Nasrullah. Auch solche Netzwerke wird der neue Verteidigungsminister zerschlagen müssen, wenn er erfolgreich sein will. Als wahrscheinlichster Kandidat für den Job gilt der als integer geltende General Abdulrahman Bello Dambazau, der aus dem Norden Nigerias stammt und in London einen Doktortitel in Kriminologie erworben hat.

Während in der politischen Führung noch über das richtige Mittel gegen die fundamentalistische Gruppe debattiert wird, gibt es zumindest Hinweise auf eine Schwächung von Boko Haram. So greifen die TerroristInnen neuerdings immer häufiger zu Pferd oder zu Kamel an und nur noch selten in den Militär-Pick-ups, die früher in Bekennervideos zu sehen waren. Ein Grund dafür ist vermutlich, dass die Gruppe kaum noch Benzin hat. Auch den Nachschub an Lebensmitteln, Waffen und anderem Gerät soll die Armee erfolgreich gestört haben. Solche kleinen Schritte könnten im Kampf gegen eine der brutalsten Terrorgruppen Afrikas am Ende entscheidend sein.

Marc Engelhardt berichtet aus Genf über 
die Uno und andere internationale Organisationen. 2015 ist im Verlag Christoph Links die zweite Auflage seines Buchs «Heiliger Krieg, heiliger Profit» erschienen.