Nach Köln: Die Inszenierung einer Kehrtwende
Die Debatten nach den Ereignissen in Köln zeigen, wie schwer sich Deutschland mit seinem Status als Einwanderungsland tut. Abgelehnte AsylbewerberInnen auszuschaffen, wird jedoch keines der Probleme lösen.
Wenn es um das Thema Einwanderung geht, wird in der deutschen Öffentlichkeit momentan die Zeit eingeteilt in «vor» und «nach» Köln. Das letztlich immer noch unklare Bild des Geschehens in der Silvesternacht am Kölner Hauptbahnhof eignet sich zur Illustration eines Stimmungsumschwungs, der sich bereits andeutete. Denn für langjährige BeobachterInnen der Migrationsdebatten in Deutschland kam diese Wende keineswegs unerwartet.
Die massenhafte Hilfsbereitschaft – jene in Europa erstaunt zur Kenntnis genommene «Willkommenskultur» – speiste sich oft aus einem verklärten Bild der Flüchtlinge als reine Opfer. In der Erzählung des «Helfens» tauchten diese Opfer nicht als widersprüchliche Menschen auf, sondern als moralisch unambivalente, «gute» Personen. Die Gegenerzählung bestand in der Beschwörung eines «Notstands» angesichts der Zahl der Flüchtlinge und ihres unorganisiert wirkenden Ankommens in der Bundesrepublik. Obwohl es überhaupt keine Hinweise darauf gibt, dass Geflüchtete aus Syrien nach ihrer Ankunft in irgendeiner Hinsicht durch Gesetzesbrüche auffallen, bietet das geballte Auftreten von «Nordafrikanern» in Köln den Anlass für die Inszenierung einer Kehrtwende. So wird die Seite derer lauter, die sich im «Notstand» glauben.
Mal mehr oder mal weniger ausgeprägt ist zurzeit eine Reihe von Denkfiguren präsent, die aus dem Diskurs der sogenannten neuen Rechten aus den neunziger Jahren stammen: Zum einen wird behauptet, die Probleme der Einwanderungsgesellschaft rührten von den patriarchalen Strukturen und der Kriminalität von «Ausländern» – zumal solchen mit einem muslimischen Hintergrund. Dies würde von einem linken Meinungskartell in den Medien verschwiegen. In Kreisen von Pegida und AfD ist schlicht von der «Lügenpresse» die Rede.
Zum anderen werden Befürchtungen geäussert, im jüngsten Einwanderungstreck verkörpere sich eine Art kolonialer Landnahmeversuch «des Islam» mit dem Ziel, Europa zu erobern. Solche Ideen finden Unterstützung in Romanen wie Michel Houellebecqs «Unterwerfung» oder in Aussagen von osteuropäischen PolitikerInnen wie etwa des tschechischen Präsidenten Milos Zeman. Sie spiegeln sich auch in der teilweise verschwörungstheoretischen Berichterstattung, etwa im Feuilleton der FAZ, wo in mehreren Beiträgen suggeriert wird, bei den Ereignissen der Silvesternacht habe es sich um eine organisierte, medienwirksame Attacke auf den Kölner Dom gehandelt, also ein bekanntes Symbol des christlichen Abendlands.
Unbeirrt, differenziert, hilfsbereit
Obwohl die Stimmung in Deutschland zurzeit als turbulent zu bezeichnen ist, ähnelt sie in nichts der Atmosphäre in den frühen neunziger Jahren. Damals gingen die Bedrohungsszenarien der «Überflutung» und «Überfremdung» von der Regierung selbst aus. Gleichzeitig schuf sie durch die miserable Unterbringung der Flüchtlinge selbst einen Notstand, mit dem sie quasi die «Notwehr» eines gewalttätigen, rassistischen Mobs auf der Strasse legitimierte. Zwar gibt es derzeit auch eine beträchtliche Menge von Angriffen auf Flüchtlingsunterkünfte, aber insgesamt ergibt sich im Vergleich zu damals trotz einer doppelt so hohen EinwanderInnenzahl ein gemischtes Bild.
Angela Merkel lässt sich erstaunlich wenig beirren, die Medien differenzieren häufig, die Hilfsbereitschaft geht weiter, und in den Gemeinden stellt man sich oft äusserst pragmatisch auf die neue Lage ein. Dennoch zeigen die Debatten, wie schwer sich Deutschland noch immer mit dem Status als Einwanderungsland tut. Das extreme Schwanken zwischen euphorischem Willkommen und der teilweise rassistisch aufgeladenen «German Angst» zeigt, wie eklatant es an realistischer Einschätzung mangelt.
Dazu kommt, dass die deutschen Behörden auf Bundesebene dabei versagt haben, sowohl die Folgen des Syrienkriegs richtig einzuschätzen als auch organisiert und flexibel auf die Zahl der Flüchtlinge zu reagieren. Die groteske Diskussion darüber, ob die MitarbeiterInnen des Migrationsamts zu Überstunden verpflichtet werden können, spricht Bände über die Kluft zwischen den verknöcherten Strukturen der Verwaltungen und der Notwendigkeit, in einer anhaltend unruhigen Weltlage vorausschauend zu analysieren und anpassungsfähig zu handeln. Auch wurde die Bevölkerung oft übergangen, denn vielfach wurde weder mit den Gesprächsbereiten unter den SkeptikerInnen, etwa in den Gemeinden, diskutiert, noch wurden die HelferInnen und ihr Know-how in Entscheidungen einbezogen. Der Eindruck der Unorganisiertheit ist gerade in Deutschland stets angstauslösend, und das simple «Wir schaffen das» reicht hier zweifellos nicht aus – die Bevölkerung fragt zurecht nach dem Plan.
Weder neu noch ein Tabu
Was nun die Ereignisse in Köln im engeren Sinne betrifft, so haben manche Teile der grossen Städte zweifellos ein Kriminalitätsproblem, zumal die mit einer notorisch schlechten Regierung wie etwa Köln oder Berlin. Was die teilweise wohl polizeibekannten Täter dazu bewogen hat, am Silvesterabend in Köln derart massiv aufzutreten und zudem sexuelle Gewalt einzusetzen, wird vermutlich im Nachhinein schwer aufzuklären sein. Zeugenberichte deuten darauf hin, dass es sich um einen Versuch handelte, mithilfe von Feuerwerksbeschuss und sexuellen Übergriffen in der anwesenden Menschenmasse Chaos herzustellen, um Personen in ihrer Verwirrung besser berauben zu können. Die sexuelle Komponente geriet offenbar erst im Lauf der Ereignisse ausser Kontrolle.
Dass das «Antanzen», die Raubüberfalle oder die gewalttätigen Attacken im Gefolge von Überfällen häufig von Personen ausgehen, die nordafrikanischer Herkunft sind, ist weder etwas Neues, noch ist es ein Tabu, darüber zu sprechen – der Autor dieses Artikels hat an seinem Wohnort im Berliner Bezirk Kreuzberg reichlich eigene Erfahrungen damit gemacht. Aus vielen Untersuchungen ist das Milieu solcher Täter bekannt. Junge Männer, kein Schulabschluss, keine Arbeit, keine klare Struktur, was das Leben und den Alltag betrifft. Keine Perspektive, aber ziemlich hohe Ansprüche an Konsum und oft auch patriarchale Formen von Männlichkeit. Zugleich erscheint die Erfüllung der Ansprüche jedoch unmöglich.
Instabiles Umfeld, unsicherer Status
Dieser Zustand sorgt häufig dafür, dass der Konsum durch Kleinkriminalität befriedigt wird und die Ideen von Männlichkeit durch eine ständige, potenziell gewalttätige Suche nach «Respekt» oder «Ehre» und den Hass auf Schwule und Frauen. Das Muster ähnelt sich über die Herkunft hinweg. Mit Tradition oder Religion hat es nur wenig zu tun, eher mit der Abwesenheit eines stabilen Umfelds. Wenn sich zu dieser Gemengelage auch noch ein unsicherer Aufenthaltsstatus gesellt, gibt es kaum noch Grenzen für das eigene Handeln. Viele der marokkanischen oder algerischen Staatsangehörigen haben sich zuvor in anderen europäischen Ländern aufgehalten. Sie wissen genau, dass sie nicht die geringste Chance auf ein Bleiberecht in Deutschland haben.
Die Polizei hat betont, es dürfe keinen Generalverdacht gegen Personen aufgrund ihrer Herkunft geben. Die derzeitigen Reaktionen im Rheinland fallen anders aus: Am vergangenen Samstag hat die Düsseldorfer Polizei im Rahmen einer mit «Casablanca» betitelten Aktion mit 300 BeamtInnen einige Strassenzüge nahe des Hauptbahnhofs abgeriegelt und dort etwa 300 Menschen kontrolliert. Am Ende wurde gegen neun (!) Personen Anzeige erstattet, sieben Mal wegen Drogenbesitz. In den Medien kamen diese Strassen als «Maghreb-Viertel» vor und als «Rückzugsort vor allem von kriminellen Gruppen aus Nordafrika» («Spiegel Online»). Der Begriff «Rückzugsort» erinnert an Guerillakrieg. An solchen Einsätzen zeigt sich ein erheblicher Mangel an Differenzierungsvermögen, der die Polizeiarbeit definitiv erschwert.
So wie die Medien «nach Köln» oft auf die anthropologische Ebene gesprungen sind und sich Fragen nach der allgemeinen Beschaffenheit des «arabischen Manns» gestellt haben, so kontrolliert die Polizei gegen ihre eigenen Beschwichtigungen nun wahllos «nordafrikanisch» aussehende junge Männer. Dabei wurden viele der aggressiven jungen Männer in Köln und Düsseldorf schon in ihren überschaubaren marokkanischen Communitys auffällig, wo sie etwa Schuhe in der Moschee stahlen.
Konflikt wird nach aussen verlagert
Neue EinwanderInnen wenden sich gewöhnlich zunächst an Personen, die die gleiche Sprache sprechen. Die Zusammenarbeit mit gesetzestreuen BürgerInnen arabischer Herkunft könnte also bei der Früherkennung, Aufklärung und Bekämpfung von Kriminalität helfen. Wenn diese BürgerInnen jedoch alle mutmasslich als Umfeld gelten, das den «Rückzug» von Straftätern deckt, wird das notwendige Vertrauen nachhaltig zerstört. Solch populistische Erzählungen spalten die Gesellschaft weiter.
SPD-Chef Sigmar Gabriel hat Marokko und Algerien unter Androhung von Kürzungen der Entwicklungshilfe aufgefordert, abgelehnte AsylbewerberInnen zurückzunehmen. So wird der Konflikt bequem nach aussen verlagert – ohne zu fragen, was «bei uns» eigentlich falsch läuft. Schon vor den Ereignissen von Köln hatte die Gewerkschaft der Polizei eine Kampagne gestartet, um auf ihren eklatanten Personalmangel hinzuweisen. «Nach» Köln hat sie klargemacht: Die von der deutschen Regierung 2009 beschlossene Schuldenbremse gefährde langsam die Gewährleistung der Sicherheit. Sicherheit wird aber auch durch Bildungs- und Sozialpolitik hergestellt – und auch hier haben die Sparmassnahmen der Regierung zu einem bedrohlichen Investitionsstau geführt. Mit Gewissheit lässt sich nach den Ereignissen in Köln eines sagen: Abschiebung wird die Probleme der Einwanderungsgesellschaft sicher nicht lösen.
Der deutsche Migrationsforscher und Autor Mark Terkessidis (49) hat zahlreiche Bücher zu den Themen Migration und Rassismus veröffentlicht. Im Mai 2015 ist im Suhrkamp Verlag sein jüngstes Buch, «Kollaboration», erschienen.