Anschläge in Brüssel: Die Ausweitung der Grauzone
Madrid, London, Bombay, Moskau, Paris, Bamako, Jakarta, Istanbul. Und nun Brüssel. Wieder zündeten vermutlich Dschihadisten Bomben. Wieder starben Dutzende Menschen, wurden mehr als 200 verletzt. Wieder traf es mit dem Flughafen und der Metro Orte, an denen unzählige Menschen verkehren. Orte, die für Mobilität und Reisefreiheit stehen. Und das nur wenige Meter von den Glasfassaden der EU-Institutionen entfernt. Die Symbolik spielt den Fanatikern in die Hände. So tragisch normal der Terror schon fast geworden ist, so erwartbar sind die Reaktionen. Erst Schock, Trauer, Solidaritätsbekundungen. Dann der schon zur Routine gewordene Ruf nach mehr Überwachung, mehr Polizei und Armee an den Grenzen, mehr Datenaustausch. Ein Ruf nach der Ausweitung der Kampfzone.
Dahinter steckt ein selbst fast fanatisch anmutender Glaube an Abschottung. Wie wenig dies nützt, zeigt Frankreich, wo in Zeiten des permanenten Ausnahmezustands dennoch innerhalb von zehn Monaten ein zweiter Anschlag möglich war. Oder Brüssel, wo die umfassende Präsenz von Geheimdienst und Polizei die Anschläge nicht verhindern konnte. Dass Einschränkungen der Freiheitsrechte keine Sicherheit schaffen, haben auch die Attacken in der Türkei erkennen lassen. Die bittere Wahrheit: Vollkommenen Schutz gibt es selbst in einem totalen Überwachungsstaat nicht. Deshalb verengt die so häufig nach Anschlägen gebrauchte Kriegsrhetorik die Sicht, versperrt den Weg für eine wirksame Antwort auf den Terror.
Naiv ist dieser Ruf nach Offenheit nicht – im Gegenteil. Denn in einer offenen Gesellschaft wird man angreifbar, eben weil sie offen ist. Das ist der Widerspruch, von dem der Philosoph Karl Popper sprach. Nicht zufällig werden seine Thesen dieser Tage wieder häufig hervorgekramt. Im Gegensatz zu geschlossenen Gesellschaftsordnungen, die an starre Ideologien gebunden sind, ist das Merkmal einer offenen Gesellschaft, dass ihre Grundlage immer wieder von neuem ausgehandelt werden muss.
Das erklärte Ziel des islamistischen Fundamentalismus ist es indes, «die Grauzonen auszulöschen». So hat es der Islamische Staat im Februar 2015 formuliert, kurz nach den Anschlägen auf die Redaktion von «Charlie Hebdo» in Paris. Zu dieser Grauzone gehört alles, was sich nicht in die Schwarz-Weiss-Welt der DschihadistInnen einfügt, die nur aus Gläubigen und Ungläubigen besteht.
Dazu gehören auch die MuslimInnen, die sich dem Feldzug gegen die «Ungläubigen» verweigern. Und die verzweifelten Menschen, die etwa vor dem Krieg in Syrien nach Europa fliehen. Einem Krieg übrigens, der den Aufstieg des IS zum Teil erst befeuert hat.
Umgekehrt verkleinern auch die europäischen Zäunebauer und Nationalistinnen mit ihrer populistischen Hetze die Grauzone. Auch dies ist stets die erwartbare Reaktion auf islamistische Anschläge, von den Terroristen einkalkuliert, Teil ihrer perfiden Logik. Der Hass spielt ihnen in die Hände. So entsteht Zwietracht, der Zwang, sich zwischen Schwarz und Weiss zu entscheiden. Das treibt verblendete Jugendliche in die Ausbildungscamps der DschihadistInnen.
Eine verrückte Ideologie hat auf diese Jugendlichen offenbar grössere Anziehungskraft als die Angebote einer offenen Gesellschaft. Die Frage nach dem Warum ist dabei so unbequem wie dringlich. Doch die vielleicht noch unbequemere Frage ist, was diese viel beschworene liberale Gesellschaft überhaupt ist. Für wen ist sie frei, wer hat Zutritt? Wen schliesst sie aus? Wem verkauft sie ihre Waffen, wo interveniert sie militärisch?
Eine offene Gesellschaft unterscheidet sich von einer geschlossenen nicht zuletzt auch deshalb, weil sie Fragen stellt, wo andere bereits die Antwort zu kennen meinen. Entsprechend muss auch die Reaktion auf Anschläge wie die in Brüssel sein: mehr Freiheit, Rechte und Vielfalt, mehr Empathie. Wohl wissend, dass dies schon hundert Mal gesagt worden ist. Es ist die Antwort, die die Kampfzone nicht ausweitet. Sie schafft eine grössere Grauzone – und kann so das Drehbuch von TerroristInnen wie NationalistInnen durcheinanderbringen.
Weiterer Artikel zum Thema:
Terrorismus in Brüssel: BrückenbauerInnen braucht das Land