Ökonomie und Ethik: «Märkte sind menschliche Erfindungen»

Nr. 14 –

Die feministische US-Ökonomin Julie Nelson hält nichts vom Homo oeconomicus, der alles Soziale, Empathische, Uneigennützige – kurz alles Unmännliche – in eine «unwirtschaftliche» Parallelwelt verweist. Die Ökonomie sei nie wertfrei, sondern so gut oder schlecht, wie wir sie machten.

Wenn sich WirtschaftsmanagerInnen plötzlich grün geben, wirtschaften sie noch nicht zwangsläufig ethisch. Foto: Ursula Häne

WOZ: Julie Nelson, ausgerechnet Sie, die Wirtschaftswissenschaftlerin, sagen, die ökonomische Theorie schade der moralischen Fantasie. Erwarten denn die Studierenden in Ökonomievorlesungen überhaupt moralischen Input? Sollten sie es?
Julie Nelson: Die moralische Botschaft der meisten Ökonomielehrgänge ist leise, fast schon heimtückisch. Denn doziert wird nicht eine explizite Moral, sondern das «wertneutrale» ökonomische Primat der Profitmaximierung. Den Studierenden wird nicht ausdrücklich geraten: «Geht raus und seid egoistisch» – es wird ihnen lediglich gesagt, so und nicht anders funktioniere die Wirtschaft. Manche der jungen Leute identifizieren sich auf fast krankhafte Weise mit dem Prinzip Eigeninteresse. Andere lehnen den Egoismus als Teil ihrer persönlichen Moral ab, doch glauben auch sie, dass die Wirtschaft so ticken muss.

Was setzen Sie der dominanten neoliberalen Wirtschaftstheorie entgegen, die soziale und ökologische Belange grösstenteils nach aussen verlagert?
Es ist zuerst wichtig klarzustellen, dass ökonomische Modelle eben nicht mehr sind als bestimmte Arten, die Welt zu verstehen – und nicht die Welt selber. Die dominante Beschreibung der Wirtschaft als wertfreies, asoziales, kontrollierbares System, das durch die Energie des individuellen Eigennutzes angetrieben und reguliert wird, ist ein besonders enges Modell. In dieser völlig profitorientierten, mechanischen Gesetzen folgenden Wirtschaft hat ethisches Verhalten keinen Platz. In Wirklichkeit sind Geld und Märkte zutiefst menschliche und gesellschaftliche Erfindungen. Und Menschen verlieren nicht ihren Status als soziale oder ethische Wesen, sobald sie den Wirtschaftssektor betreten. Im Guten wie im Schlechten bringen sie all ihre Werte und Hoffnungen mit.

Gab es eine Zeit, in der die Ökonomie umfassender dachte als heute?
Als in den USA des ausgehenden 19. Jahrhunderts die ersten ökonomischen Fakultäten entstanden, wurde auch die American Economic Association gegründet, eine der heute grössten Vereinigungen der Wirtschaftswissenschaften. In ihrem ersten Programm von 1885 deklarierte die Standesorganisation: In der Ökonomie gehe es darum, Wissen und Bedürfnisse, Industrielle und Arbeiterinnen und Arbeiter zusammenzubringen, um zum Wohl der Gesellschaft wirken zu können. Diese Pioniere hatten noch eine Mission, sie wussten, was sie von der Ökonomie wollten. Noch in den 1930er Jahren gab es in den USA viele Wirtschaftswissenschaftler, die die Regierungen berieten und die Entstehung von sozialstaatlichen Programmen anregten und fachlich begleiteten. Dann zog sich die ökonomische Theorie auf immer engere Definitionen zurück.

Gilt das selbst für die 1960er und 1970er Jahre, eine Zeit, in der die soziale Ungleichheit weniger krass und der Sozialstaat stärker war?
Die fundamentale Überzeugung, dass die Wirtschaft selber eine amoralische und mechanische Sache sei, reichte damals und reicht bis heute weit ins linksliberale Lager hinein. Wie oft hört man, die Politik «mische sich ein» in die Wirtschaft! Wer so spricht, geht davon aus, dass die Wirtschaft hier ist und die Politik dort drüben. Das finde ich absurd. Eine Ökonomie existiert nie ohne Menschen, ohne Gesellschaft, ohne Politik. Der Staat ist von allem Anfang an ein komplexer Teil der Wirtschaft.

Wieso hat dieses mechanische Verständnis der Ökonomie noch so viel Gewicht?
Eine erste plausible Begründung lautet: Es ist alles eine Frage der Macht. Es gibt reiche und mächtige Menschen, denen es recht ist, dass ökonomische Themen wie Distribution gar nicht erst zur Sprache kommen. Es sind die gleichen Leute, die «wissenschaftlich» bestätigt haben wollen, dass man CEOs mit Multimillionensalären ködern muss. Weil wir Menschen bekanntlich egoistischer handeln, wenn wir glauben, dass andere das auch tun, hat dieses Modell des allgegenwärtigen Eigennutzes einen Hang zur selbsterfüllenden Prophezeiung.

Es gibt jedoch noch eine zweite, etwas breiter gefasste Deutung: die extreme maskuline Voreingenommenheit der Ökonomietheorie. Die orthodoxe Wirtschaftswissenschaft berücksichtigt nur einen Teil des menschlichen Verhaltens und der möglichen Wissensformen. Anderes schliesst sie aus, und zwar nach einem ganz bestimmten Muster: Akzeptiert ist die Ratio, abgelehnt werden Gefühle; dazu gehören Abtrennung und Autonomie, nicht aber Verbindung, Abhängigkeit und Verpflichtung.

Die Ökonomie entscheidet sich für Mathematik und gegen Sprache, für Vernunft und gegen Intuition. Die kulturelle Konnotation all dieser Begriffe macht klar, dass die Wirtschaftswissenschaft sich stets auf die «männliche» Seite schlägt und die weicheren «weiblichen» Eigenschaften als «unökonomisch» zurückweist. Die heutigen Ökonomen – mehrheitlich Männer – sehen sich als eine Art Physiker und denken, sie seien gescheiter und wissenschaftlicher als die Soziologie und andere Sozialwissenschaften. Doch das Gegenteil, die Kehrseite der «strengen» Naturwissenschaften, ist nicht die weiche Wissenschaft, also Politologie, Psychologie et cetera, sondern das Dogma.

Wie schädlich ist das heutige neoliberale Wirtschaftsdogma?
Diese ökonomische Theorie schafft Mythen, die die mächtigsten, gierigsten und kurzsichtigsten ökonomischen Akteure stärken, während die normalen ethischen Empfindsamkeiten und die normalen Sehnsüchte der Menschen nach einer blühenden, gerechten und nachhaltigen Gesellschaft untergraben werden. Gerade auch bei der Linken hat diese enge Sichtweise die moralische Fantasie beschädigt. Es wird schwierig, sich Lösungen vorzustellen, die nicht einfach das pure Gegenteil des Bestehenden darstellen. In der Gesellschaftskritik der US-Linken zumindest sehe ich diese Art reaktionärer Opposition: Von ihrem Wesen her sind Märkte unmoralisch, und die Unternehmen müssen Profite maximieren. Wenn wir also eine gerechte Wirtschaft haben wollen, müssen wir ganz von vorn anfangen und genau das Gegenteil tun. Globalisierung ist schlecht, also muss alles Lokale gut sein; Wettbewerb ist schlecht, also müssen wir alles auf Kooperation aufbauen; Geld ist dieses schlimme Medium, also müssen wir es abschaffen und etwas anderes einführen … Wir sollten uns immer wieder daran erinnern, dass die Ökonomie als Maschine eine Ideologie ist und keine Realität. Dann müssen wir uns auch nicht in irgendein Utopia absetzen, sondern können ansetzen an dem, was wir heute vor uns haben.

Wie schätzen Sie wirtschaftliche Alternativstrukturen denn ein?
In den USA gibt es seit 2010 sogenannte Benefit Corporations, B Corps, das sind Unternehmen, die sich ausdrücklich sozialen oder grünen Zielen verpflichten. Die B Corps werden als solche zertifiziert, ähnlich wie biologische oder Fairtrade-Produkte. Im Grunde sind solche Parallelkonstruktionen jedoch gar nicht nötig. Die Unternehmen haben auch so viel mehr Freiheit, als sie denken oder vorgeben. Natürlich können sie diese Freiheit auf ganz unterschiedliche Art und Weise nutzen. Das Schnüren von lächerlich grossen CEO-Vergütungspaketen ist so eine «freie Wahl». Doch die Unternehmen könnten das Geld auch anders einsetzen: für Umweltmassnahmen, für Kindertagesstätten, für die Anhebung der Minimallöhne. Es gibt kein Gesetz, das ihnen das verbieten würde. Wenn man von Unternehmen nicht mehr dogmatisch verlangt, ihr oberstes Ziel müsse die Profitmaximierung sein, dann erlaubt man auch nicht mehr, dass diese als Ausrede für allerlei übles Verhalten missbraucht wird.

Wie kann die Wirtschaft im Kern ethischer werden – und nicht bloss ethisch angehaucht?
Es ist tatsächlich sehr einfach, Ethik zum Weiss- oder Grünwaschen neoliberaler Ökonomie zu missbrauchen. Für eine echte Wirtschaftsethik braucht es zunächst einmal Führung, authentische Führung. Die Leute an der Spitze müssen an die ethischen Ziele glauben und sie nicht bloss opportunistisch vorgeben; sie müssen ihr Leben ethisch verantwortlich leben und den Betrieb ethisch verantwortlich führen wollen. Doch auch die stärkste Motivation genügt nicht; die Strukturen müssen so geändert werden, dass ethisches Verhalten möglich ist. Zum Beispiel braucht es andere Anreize. Wenn das Management immer noch dazu angehalten wird, bei jeder Gelegenheit Löhne und Qualität der Arbeit zu kürzen, wird es kaum ethisches Verhalten geben. Auch der Informationsfluss, die Transparenz, muss sich ändern. Wenn die CEOs ganz oben abgeschirmt werden vom Schaden, den ihre Firma weiter unten anrichtet, können sie sich vormachen, dass sie ethisch handeln, auch wenn sie es in Tat und Wahrheit nicht tun. Die Geschäftsberichte und Betriebsstudien müssen so abgefasst sein, dass die Führungskräfte mit der Wirkung ihres Wirtschaftens direkt konfrontiert werden und ihrer ethischen Aufsichtspflicht nachkommen können.

Wo kann diese Transformation ansetzen? In den Universitäten?
Leider gehen die Universitäten, vor allem die privaten Hochschulen in den USA, denselben Weg wie die übrigen Unternehmen. Viele Hochschulverwaltungen sind mehr an Finanzerträgen interessiert als an den Studierenden und der umfassenden Bildungsaufgabe. Man spricht jetzt viel von der «corporatization» der Unis, von ihrer Verwirtschaftlichung. Doch ich halte das für eine Fehlbezeichnung; sie suggeriert einmal mehr, dass Verwirtschaftlichung automatisch die Orientierung am Reingewinn bedeutet. Konkurrenz und Ausbeutung sind aber nicht bloss in der Wirtschaft ein Problem, sondern auch im Nonprofitsektor und in der staatlichen Verwaltung.

Ich glaube, jede und jeder Einzelne kann und muss genau hinsehen, was im eigenen Umfeld passiert – und sich dann fragen, wie es besser, verantwortungsvoller werden könnte. Ich persönlich betreibe konsequent Fachkritik und versuche, den Begriff der Ökonomie auszuweiten. Da, wo wir als Ökonominnen und Ökonomen die Verbreitung der radikal vereinfachenden und ethikfeindlichen Aussagen der vorherrschenden Wirtschaftstheorie ohne entschiedene Gegenwehr zulassen, sind wir bereits Teil des Problems.

Julie Nelson

Die US-Ökonomin Julie Nelson (60) lehrt an der University of Massachusetts in Boston. Ihr Spezialgebiet ist die feministische Kritik der Modelle und der Methodologie der orthodoxen Wirtschaftswissenschaft. Sie ist Gründungsmitglied der International Association for Feminist Economics (IAFFE). In ihren neusten Arbeiten befasst sie sich mit dem Thema Ethik und Ökonomie im Zusammenhang mit dem Klimawandel.

Zum Thema des WOZ-Gesprächs äussert sich Julie Nelson auch ausführlich (in Englisch) in einem Essay, der auf der Website des New Yorker Thinktanks New Institute of Economic Thinking einsehbar ist: http://ineteconomics.org/ideas-papers/research-papers/poisoning-the-wel….