Marlene Marder (1954–2016): Punkette mit Charme und sprechender Maus

Nr. 21 –

Vergangene Woche ist die Gitarristin der pophistorisch bedeutenden Zürcher Band Kleenex, später LiLiput, gestorben. Eine Freundin erinnert sich.

Ein freier Geist voller Spieltrieb: Marlene Marder im Backstagebereich der Roten Fabrik in Zürich bei einem Konzert der Dangermice im September 1988. Foto: Andreas Meier

Ich war vielleicht sechzehn, als ich Kleenex zum ersten Mal wahrnahm. Sie sangen im Fernsehen von weissen Pudeln. Es trug dazu bei, dass ich bald selber zum Bass griff. 1986, drei Jahre nach der Auflösung von Kleenex/LiLiput, veröffentlichte Marlene Marder ihre Band-Tagebücher (Edition Patrick Frey). Sie kam als Gast in meine Radiosendung. Es war Liebe auf den ersten Blick. Noch auf der Zugfahrt von Basel zurück nach Zürich gründeten wir die Band Dangermice. Die Kleenex-Vergangenheit und der Umstand, dass wir eine reine «Damenkapelle» (O-Ton Marlene) waren, brachte uns viel mediale Aufmerksamkeit. Während Interviews wechselte Marlene fliegend zwischen passiv-aggressiver Punkette und Charmebolzen. Sogar der Drummerin Lydia Bischofberger und mir war oft nicht klar, wann sie ehrlich war. Aus heutiger Warte würde ich sagen: immer!

Dadaismus, Futurismus, Lettrismus und Situationistische Internationale – diese kunstgeschichtlichen Inputs wurden vermutlich von der Künstlerin und Bassistin Klaudia Schifferle in die Band Kleenex getragen. Und vom Künstlerduo Fischli/Weiss, das ihre Plattencover gestaltete. Aber bei Marlene war Dada ganz einfach Disposition: Aus einer gewissen Grundmelancholie heraus poppte stets der Schalk auf. Sie sah in allem, wie es ebenso gut auch hätte sein können. Nämlich menschlicher und vor allem lustiger. Dass sie nun mitten in den hochglanzpolierten Dada-Festivitäten in Zürich starb, entbehrt nicht einer gewissen Ironie. «Am Füdli isch dunkel!», hätte sie gebrummt. Das sagte sie immer, wenn sie etwas bescheuert fand und nichts dagegen tun konnte. Und dann hätte sie wohl zu ihrem Ganzkörperlachen angehoben, das sie je nach Eruptionsstärke in einen Kringel verwandelte.

Musikalisches Makramee

Die Dangermice mochten Jungszeug, Posing, R.O.C.K. – auch wenn hinten dann doch immer Popsongs rauskamen. Als Gitarristin fehlte es Marlene an der Disziplin, die es für die volle Mucke gebraucht hätte – das Einzige, worüber wir uns je gestritten haben. Marlenes Ambitionslosigkeit konnte mich auf die Palme bringen! Aber lange konnte man ihr eh nicht böse sein. Ein gezielter Einsatz ihres Lächelns, und schon fand man sich selber spiessig.

Viel Zeit widmete Marlene der Beobachtung der Rock- und Popszene. Sie führte zusammen mit Urs Steiger und ihrer grossen Liebe Juliana Müller den Plattenladen Upstairs, und die Crew gründete, verstärkt durch Katja Alves, die Konzertagentur AFID. Sie brachten Mano Negra, Bérurier Noir, Nick Cave, Diamanda Galás, Leningrad Cowboys, Die Goldenen Zitronen und viele mehr nach Zürich.

Auch die Entwicklung der elektronischen Musik interessierte sie. Sampling war gerade der Hot Shit. «Das kann man von Hand machen», sagte Marlene, die schon länger eine direkte Linie zwischen Makramee und Musizieren ausgemacht hatte. Fortan betrieben wir exzessives Handsampling und bedienten uns mit Ton und Text bei George Gershwin bis Slayer. Nun war in der Zeitung zu lesen, wir seien verkopft, wo da eben noch stand, wir seien brachiale Machos (!). Ei, das gab hübsche Marlene-Kringel! Im Bandbus Bier und lautstarkes «Wir lagen vor Madagaskar und hatten die Pest an Bord».

Dieser Ära blieb Marlene zeitlebens verhaftet. Nicht in einer doofen «Für immer Punk»-Manier, sondern indem sie ihren Spieltrieb und ihren Freigeist auch ausserhalb des Musikgeschäfts bewahrte. So wie die enge Hose mit Leopardenprint. 1992 wechselte ich zu Der böse Bub Eugen. Marlene war nicht nachtragend, unsere Beziehung blieb innig. Die Poptheorie unterwarf das Schaffen unserer Generation einer Analyse. Der Underground hatte sich den Regeln der Marktwirtschaft unterworfen. Vor uns die Treppe ins Museum.

Marlene sattelte beruflich um und begann, für verschiedene NGOs zu arbeiten. Daneben verwaltete sie das Erbe von Kleenex/LiLiput, die in den USA und in Japan späte Anerkennung fanden. Alles wurde vom US-amerikanischen Label Kill Rock Stars wiederveröffentlicht. Die meisten Labels, mit denen Kleenex ursprünglich Verträge unterschrieben hatten, waren längst eingegangen. Das zwang Marlene, mühsame Nachforschungen anzustellen, wer aktuell die Rechte an ihren Songs hatte – not her idea of fun.

Ahoi! Ahoi!

Grosse Freude bereiteten ihr hingegen ausgedehnte Schiffsreisen auf Frachtern. In den Weiten der Ozeane schrieb sie Logbücher, die sie via Blog mit dem Freundeskreis teilte. Marlene reiste meist alleine, allenfalls mal mit der Stoffmaus Johnny Marroni, die sie auf ihrem Blog zum Erzähler machte.

Aber dann kam die Pest an Bord. Marlene sprach offen über den Krebs, ohne zu jammern. Was sie durchmachen musste, war fast nur an ihrer ewigen Leopardenhose abzulesen, die ihr immer loser um die Beine schlackerte. Wir sassen nun omamässig auf ihrer Terrasse und schauten den Flugzeugen nach, deren Destinationen sie mithilfe ihres Smartphones bestimmen konnte. Ich wusste anfangs nicht, ob sie mir mit dieser Flugzielerkennungs-App mal wieder einen Bären aufband. Es wäre beileibe nicht das erste Mal gewesen, dass ich in den dreissig Jahren unserer Freundschaft auf eine Erfindung von ihr reingefallen wäre.

Marlene starb im Kreis ihrer Liebsten, friedvoll. Es ist gut so, sagt mein Verstand. Mein Herz will sie einfach nur zurückhaben.

Die Musikerin, Yogalehrerin, Journalistin und Autorin Suzanne Zahnd (54) war Bassistin und Sängerin bei Dangermice und Der böse Bub Eugen, moderierte «Sounds!» und «Sounds!-Surprise» auf DRS 3 und schrieb früher regelmässig für die WOZ.