Wikileaks-Prozess: Ein Whistleblower zur Unzeit

Nr. 25 –

Der ehemalige Bankangestellte Rudolf Elmer steht wegen Bankgeheimnisverletzung vor Gericht. Seit über zehn Jahren an seiner Seite: die Pflichtverteidigerin Ganden Tethong. Eine Annäherung.

Jetzt betritt sie wieder den Gerichtssaal – zum dritten, zum vierten Mal. Oder waren es etwa schon mehr Verhandlungen? Über zehn Jahre dauert das Verfahren gegen ihren Klienten mittlerweile an, die Gerichtsakten umfassen mehrere Millionen Seiten, die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft haben sich über die Cayman Islands, Mauritius und Jersey erstreckt.

Es ist vielleicht das grösste und aufwendigste Mandat ihrer bisherigen Karriere. Auf jeden Fall hat kein anderer Fall sie so lange beschäftigt. Und wenn Ganden Tethong, 51, Wirtschaftsanwältin, in diesen Tagen im Grossen Saal des Obergerichts in Zürich sitzt und den ehemaligen Banker Rudolf Elmer verteidigt, fragt sich mancheR ZuschauerIn, wie sie in diesem ganzen Durcheinander bloss die Übersicht hat bewahren können.

Die Anklage wirft Elmer mehrfache Bankgeheimnisverletzung und Drohung vor. Dabei kommen beim Prozess, der am Erscheinungstag dieser WOZ beginnt, gleich zwei verschiedene Strafverfahren vor den Richter: eines aus dem Jahr 2005, eines aus dem Jahr 2011. Beide Verfahren wurden zu einer grossen, zweitägigen Verhandlung zusammengelegt (vgl. «Zwei Strafverfahren, eine Gerichtsverhandlung» im Anschluss an diesen Text).

Mit Wikileaks das Nest beschmutzen

Was ist weiter entfernt: der Anfang oder das Ende dieser Geschichte? Die anstehende Verhandlung dürfte kaum das letzte Kapitel in diesem Fall sein: Elmer ist seit langem fest entschlossen, bis zur letzten Instanz zu prozessieren, sollte ihn nach den Schuldsprüchen am Bezirksgericht auch das Obergericht für schuldig befinden. Die Zürcher Staatsanwaltschaft wiederum könnte einen Freispruch für Elmer kaum auf sich sitzen lassen: Zu viel Zeit und Geld hat dieses Verfahren schon gekostet, es wäre eine furchtbar peinliche Schlappe.

Ihren Anfang nahm die Geschichte an einem Donnerstagmorgen Ende November 2002 in den Büros der Privatbank Julius Bär im karibischen Steuerparadies der Cayman Islands: Der Schweizer Rudolf Elmer musste einen Lügendetektortest ablegen. Elmer, der aus einem Zürcher Arbeitermilieu aufgestiegen war und es nach fünfzehn Jahren bei Julius Bär zum Chief Operating Officer gebracht hatte, der Nummer zwei der Bank auf den Cayman Islands, fühlte sich vor den Kopf gestossen. Er überwarf sich mit der Bank, wurde gefeuert, und ein jahrelanger Konflikt entbrannte. Dieser Streit kostete ihn beinahe den Verstand, die Bank ihre zwei teuersten Schätze: Verschwiegenheit und Vertrauen. Denn Elmer hatte die Karibik mit Kundendaten verlassen und verriet nun die Geheimnisse der Bank und ihrer vermögenden Kundschaft – zunächst an Steuerbehörden, später an die Enthüllungsplattform Wikileaks.

Vordergründig geht es um die Details von Elmers Geheimnisverrat: welche Daten er wann preisgab, ob das nach Schweizer Recht strafbar war und inwieweit die Methoden, auf die Elmer zurückgriff, korrekt waren. In einem grösseren Kontext geht es aber auch um den Umgang der Schweiz mit ihrer Geschichte und mit einem Mann, der das von der Schweiz äusserst erfolgreich angewandte Geschäftsmodell der Steuerhinterziehung kritisierte, bevor dies andere taten. Es geht also in diesem Prozess auch um das Urteil über einen Nestbeschmutzer, einen «Whistleblower zur Unzeit», wie Elmer von einem Unterstützer einmal genannt wurde.

Reden nur, wenn es sein muss

Ganden Tethong sind solche Deutungen höchstens ein Schulterzucken wert. Ob das Bankgeheimnis moralisch verwerflich war? Ob Schweizer Banken bei der Steuerhinterziehung behilflich waren? Ob Elmer zur Aufklärung über fragwürdige Offshorepraktiken beigetragen hat? Das sind Fragen, die Tethong nur am Rand berühren. Sie sind für sie nicht wichtig, denn: Was, bitte, hat das mit ihrem Fall zu tun?

Es gibt AnwältInnen, die werfen sich in Pose, wenn sie eine Kamera sehen. Sie glänzen mit Rhetorik statt juristischer Präzision, wissen, wann sie reden müssen, um die Öffentlichkeit für sich zu gewinnen. Ganden Tethong ist anders: eine zurückhaltende Anwältin, die nur spricht, wenn sie muss. Sie ist stets auf Distanz bedacht. Obwohl sie Rudolf Elmer mittlerweile seit über zehn Jahren kennt, siezt sie ihn noch immer. Die Interviews, die sie gibt, lassen sich an einer Hand abzählen.

Tethong wurde im appenzellischen Trogen geboren und wuchs in Zürich auf. Die Eltern stammen aus Tibet. Sie waren die allerersten tibetischen Flüchtlinge, die sich in der Schweiz niederliessen. Ganden Tethong studierte Rechtswissenschaften in Zürich, legte später die Anwaltsprüfung ab. Heute ist sie Partnerin bei der Anwaltskanzlei Tethong Blattner in Zürich.

Rudolf Elmer lernte sie im Herbst 2005 kennen. Er war damals ziemlich durch den Wind: Privatdetektive waren um sein Haus und sein Büro geschlichen und hatten ihn und seine Familie beschattet. Als er im September verhaftet wurde, weil man ihm vorwarf, Bankdaten verschickt und die Bank und ihre KundInnen bedroht zu haben, war das für ihn fast schon eine Erlösung: Im Gefängnis hatte er endlich Ruhe.

Auch Tethong gewann diesen Eindruck, als sie Elmer am zweiten Tag seiner Haft besuchte: «Es war offensichtlich, dass er vor seiner Verhaftung unter grosser Anspannung gestanden hatte», sagt sie. «Er erzählte mir gleich bei unserem ersten Treffen, dass er sich bedroht fühlte. Ich habe gemerkt, dass er sehr mitgenommen war und dass er nichts vorspielte. Niemand findet es angenehm, im Gefängnis zu sitzen. Aber für Herrn Elmer war das ein sicherer Ort. Das Gefängnis gab ihm Ruhe und Sicherheit.»

Das war 2005, und Tethong hatte keine Ahnung, dass sie sich zehn Jahre später immer noch mit diesem Fall herumschlagen würde.

In den Anfangstagen ging es um Drohungen und vermeintliche Anthraxbriefe, die bei Julius Bär eingegangen waren. Der Vorwurf, Elmer habe Briefe mit weissem Pulver an die Bank geschickt, verflüchtigte sich schnell. Dafür erfuhr Tethong nach und nach mehr über die Vorgeschichte, die Elmer zum Vorgehen gegen die Bank bewogen hatte: die Entlassung, die Elmer als unwürdig empfand; die Verfolgung Elmers und seiner Familie durch Privatdetektive, die die Bank Julius Bär engagiert hatte.

Tethong hat diese Geschichten allerdings nie in den Vordergrund gerückt. Sie hat nie versucht, Elmer als Whistleblower zu verkaufen, seine Taten mit ehrenvollen Motiven herunterzuspielen und ein möglichst mildes Urteil herauszuschlagen. Aus einem einfachen Grund: Elmer hat sich ihrer Ansicht nach nicht der Verletzung des Schweizer Bankgeheimnisses schuldig gemacht, weil er dem Bankgeheimnis gar nicht unterstand.

«Das Recht ziemlich zurechtgebogen»

Tethongs Argumentation ist in den vergangenen zehn Jahren stets dieselbe geblieben. Erstens: Elmer war, bevor er 2002 entlassen wurde, nicht Angestellter der Schweizer Bank Julius Bär, sondern der ausländischen Tochterfirma Julius Baer Bank and Trust Company auf den Cayman Islands (die Staatsanwaltschaft behauptet das Gegenteil). Zweitens: Die Daten, die Elmer verschickte, stammten von den Cayman Islands, nicht aus der Schweiz. Und dort gilt das Schweizer Bankgeheimnis nicht.

Der Basler Strafrechtsprofessor und Geldwäschereiexperte Mark Pieth äussert sich ähnlich: «Es geht um eine Bank in Cayman, um Bankkunden in Cayman, um einen Angestellten in Cayman. Da muss man das Recht schon ziemlich zurechtbiegen, um diesen Fall überhaupt vor ein Schweizer Gericht zu bringen.»

Es hat viele Jahre gedauert, bis die Zürcher Justizbehörden Tethongs Argumentation überhaupt in Erwägung zogen. Im November 2011 ging das Zürcher Obergericht schliesslich darauf ein und hielt fest, dass Elmers Schuld im Wesentlichen davon abhängig sei, ob sich beim geleakten Material auch Daten aus der Schweiz befinden – oder nur aus Cayman. Seither hängt das Verfahren gegen Rudolf Elmer in der Schwebe.

War Elmer auf den Cayman Islands überhaupt ein Angestellter einer Schweizer Bank? Waren die Daten, die er verschickte, Schweizer Bankdaten? Und wenn nicht: Wie kann sich Elmer dann der Verletzung des Schweizer Bankgeheimnisses schuldig gemacht haben? Diese und andere Fragen verhandelt nun das Obergericht. Ganden Tethong wird nüchtern auf ihrer Argumentation beharren, wie immer seit dem ersten Tag ihrer Verteidigung. Für die Staatsanwaltschaft steht viel auf dem Spiel.

Von WOZ-Redaktor Carlos Hanimann erschien unlängst im Echtzeit Verlag: «Elmer schert aus. Ein wahrer Krimi zum Bankgeheimnis». Das Buch ist auch im WOZ-Shop erhältlich.

Der Fall Rudolf Elmer : Zwei Strafverfahren, eine Gerichtsverhandlung

Der heute sechzigjährige Rudolf Elmer trat 1987 in die Privatbank Julius Bär ein und arbeitete als Revisor erst in Zürich, ab 1994 dann auf den Cayman Islands in der Karibik. Dort stieg er zur Nummer zwei des Cayman-Ablegers der Bank auf, ehe er 2002 entlassen wurde.

Elmer drohte in der Folge BankkundInnen, ihre Vermögensverhältnisse auffliegen zu lassen. Später verschickte er tatsächlich Daten-CDs an verschiedene Steuerbehörden und mutmasslich auch an die Schweizer Wirtschaftszeitung «Cash». Im Herbst 2005 wurde Elmer deswegen verhaftet, das Verfahren der Staatsanwaltschaft kam 2010 zum Abschluss. Im Januar 2011 stand Elmer vor Gericht – wegen Drohung, Nötigung und Bankgeheimnisverletzung – und wurde teilweise schuldig gesprochen. Elmer und seine Anwältin gingen in Berufung. Das Berufungsverfahren wurde jedoch sistiert, weil das «Corpus Delicti», die Daten-CD, gar nie untersucht worden war. Nun wird vor Gericht unter anderem verhandelt, ob auf der verschickten CD überhaupt Schweizer KundInnendaten vorhanden waren und ob sie unter das Bankgeheimnis fielen.

Das zweite Strafverfahren gegen Elmer entstand quasi als Fortsetzung des ersten. Nur zwei Tage vor der Gerichtsverhandlung im Januar 2011 war Elmer nach London gereist und hatte dort vor Dutzenden JournalistInnen dem Wikileaks-Gründer Julian Assange zwei CDs in die Hand gedrückt. Die Zürcher Staatsanwaltschaft wertete das als Provokation und liess Elmer noch am Abend nach der Gerichtsverhandlung in Zürich verhaften. Diesmal sass Elmer für sechs Monate in Untersuchungshaft. Er behauptet bis heute, dass die übergebenen CDs leer gewesen seien. Die Staatsanwaltschaft warf ihm dennoch mehrfache Verletzung des Bankgeheimnisses vor. Zudem wollte sie Elmer nachträglich dafür belangen, dass Wikileaks im Jahr 2008 Bankdaten von Julius Bär veröffentlicht hatte, die sie von Elmer erhalten hatte. Kurz vor der Verjährungsfrist kam es im Dezember 2014 zum zweiten Prozess. Elmer wurde teilweise freigesprochen. Sowohl Staatsanwaltschaft als auch Verteidigung gingen in Berufung.

Nun sind beide Verfahren vor dem Zürcher Obergericht gelandet, am Erscheinungstag dieser WOZ beginnt der Prozess.

Carlos Hanimann