Putschtagebuch: Mögest du nicht in interessanten Zeiten leben!
Was ist seit dem gescheiterten Putschversuch in der Türkei passiert? Und wie geht die Gesellschaft mit dem Ausnahmezustand um? Für die WOZ hat die Istanbuler Schriftstellerin Ece Temelkuran zwei Wochen lang Tagebuch geführt.
15. Juli, abends: Kampfjets und Witze voller Bitterkeit
«Schalt auf der Stelle den Fernseher ein!» Wenn deine FreundInnen dich mit diesen Worten anrufen, kannst du in der Türkei vollkommen sicher sein, dass gerade etwas Entsetzliches im Gang ist. Und doch: Angesichts der mehr als ein Dutzend Terroranschläge im vergangenen Jahr sind wir so schockresistent geworden, dass es fast schon absurd wirkt. Deshalb zirkulieren in den sozialen Medien auch bittere Witze über die TV-Aufnahmen, auf denen Soldaten beim Absperren der Bosporusbrücke zu sehen sind. Die meisten von uns nehmen die Videos so lange nicht ernst, bis über unseren Köpfen die Kampfjets aufsteigen und die Fensterscheiben zum Bersten bringen. Die TV-Übertragung kann gar nicht so schnell gesendet werden, wie in der Hauptstadt das Parlament bombardiert wird.
Über Facetime ist der Präsident im Fernsehen zu sehen – er sagt, dass gerade tatsächlich ein Putschversuch stattfinde, dass alle BürgerInnen auf die Strassen und Plätze strömen sollen, um diesen zu verhindern. Und tatsächlich begeben sich manche auf die Strasse, einige von ihnen sogar im Pyjama. Andere eilen in die Supermärkte – aus der Erfahrung des letzten Militärputschs 1980 wissen sie, dass bald eine Ausgangssperre verhängt wird. Bis weit ins Morgengrauen hinein erklingt von den Minaretten der Stadt das rituelle Totengebet Sala, das Geräusch vermischt sich mit dem wiederkehrenden Überschallknall vorbeifliegender Kampfjets. Eine Nacht wie im Krieg.
Alle sind bemüht, auf ihre eigene Weise mit der Situation umzugehen: Ich beginne jedes Detail, das ich sehe, aufzuschreiben. Eine Freundin muss sich übergeben, zwei Tage lang wird sie sich nicht erholen können. Und ein Freund erklärt, er möchte just in diesem Moment «Star Wars» schauen. So fühlt sich also Krieg an: totaler Irrsinn. Das Parlament wird bombardiert. Die Abgeordneten versuchen, den Schutzraum zu finden. Und als sie ihn endlich entdecken, haben sie keinen Schlüssel. Wenn in der türkischen Küche als Hauptspeise eine Tragödie gereicht wird, dient die Komödie immer als Beilage.
16. Juli: Sätze für FreundInnen und Redaktionen
Die Kampfjets fliegen nicht mehr. Ich bin dankbar dafür, dass nach einer derartigen Nacht keine Bomben mehr fallen. Mein Daumengelenk ist geschwollen, weil ich Redaktionen wie FreundInnen auf der ganzen Welt diese eine Nachricht zukommen lasse: «Ich bin am Leben. Die Situation verwirrt mich. Nein, die Regierung hat den Putschversuch nicht inszeniert. Aber ja, er lässt sich dazu benutzen, die bereits heute ohne Konkurrenz regierende Partei weiter zu stärken. Die Bewegung von Fethullah Gülen scheint für den Putschversuch verantwortlich zu sein. Jetzt ist nicht die Zeit zu erklären, wer das eigentlich ist, denn das ist ziemlich kompliziert. Ihr werdet sicher bald mehr über diese Bewegung erfahren, das Internet funktioniert schliesslich über alle Ländergrenzen hinweg. Ihr werdet bald sehen, was ich meine.»
17. Juli: Sogar die Opposition darf ins Fernsehen
Viele sind besorgt. Bald könnte eine Hexenjagd beginnen – mit dem Ziel, jegliche Opposition auszulöschen. Die Türkei war vorher schon ein polarisiertes Land, jetzt ist die Anspannung mit Händen greifbar. In Scharen waren die Menschen vor wenigen Tagen auf die Strasse gestürmt, um die Panzer aufzuhalten. Sie nehmen den Rest in die Pflicht, weil er nicht auf der Strasse war. Jetzt müssen alle beweisen, dass sie den Putsch verurteilen. Präsident Erdogan hat die gesamte Bevölkerung aufgerufen, sich eine Woche lang auf den Plätzen der Städte zu versammeln. Aber in der Menge überwiegen die ParteianhängerInnen, und der Ton des Islam dominiert.
Offenbar hat der Ministerpräsident gemerkt, dass die Spannungen zwischen den säkularen Kräften und den AnhängerInnen der Partei immer grösser werden: Er präsentiert das Foto einer verschleierten Frau, die gemeinsam mit ihrer unverschleierten Freundin am 15. Juli zum Taksimplatz fährt. Das Bild habe ihn zum Weinen gebracht, sagt er. Er wiederholt die Geschichte mehrmals. Um des nationalen Zusammenhalts willen darf der Anführer der grössten Oppositionspartei des Landes zum ersten Mal seit Jahren im Fernsehen auftreten.
20. Juli: Flucht in die Irrelevanz
Bisher blinkte jeden Tag mindestens alle fünfzehn Minuten das Breaking-News-Symbol auf dem Fernsehbildschirm. «Dreh durch, solange du die Gelegenheit dazu hast» ist dieser Tage eine beliebte Redewendung. Denn die Geschwindigkeit der Ereignisse ist für den gesunden Menschenverstand unerträglich. Ich fühle mich völlig betäubt – von den Interviews, die ich gegeben, den Artikeln, die ich für die ausländische Presse verfasst habe.
Ich ertappe mich dabei, wie ich auf die Reben im Garten starre. Ich frage mich, ob ich noch erleben werde, wie die Trauben reifen. Die drei Kätzchen aus meinem Garten sind seit letzter Nacht nicht mehr aufgetaucht. Mir kommen dumme Gedanken. «Können Katzen aus Angst vor einem Überschallknall sterben?», frage ich mich. Ich glaube, das menschliche Gehirn versucht, sich mit der Flucht in die Irrelevanz zu schützen. In den Nachrichten kommen immer mehr Einzelheiten aus der Putschnacht ans Licht. Es wird klar, dass die Ereignisse grösser sind, als wir annahmen. Dann wird der Ausnahmezustand ausgerufen.
22. Juli: Harte Zeiten für KritikerInnen
Die ausländische Presse ist beinahe überzeugt davon, dass der Putschversuch inszeniert war. Dass Gülen-AnhängerInnen aller Gesellschaftsschichten in Scharen verhaftet werden, macht es nicht einfacher, sie vom Gegenteil zu überzeugen. Wie unsinnig, dass die Weltöffentlichkeit gerade jetzt von dieser äusserst komplexen Bewegung erfahren muss. Die islamische Sekte war einst die Hauptverbündete der Regierung – und als solche hat sie die Institutionen in der Türkei unterwandert. Dieser Umstand ist für den Westen nicht einfach zu verstehen.
Für Leute wie mich, die Regierung und Gülen-Bewegung gleichermassen kritisiert haben und dafür bezahlen mussten, sind schwierige Zeiten angebrochen. Die Regierung will nicht hören, wenn wir sagen, wir hätten es schon immer gewusst. Und die internationale Presse wiederum hat uns im Verdacht, die Regierung zu unterstützen, wenn wir berichten, wie mächtig die Bewegung ist. Heute ist mein Geburtstag – ich bin nun 43, so alt wie mein Vater beim Militärputsch 1980.
23. Juli: Wer waren noch mal die Opfer?
Ein Oberstleutnant hat sich in seiner Gefängniszelle erhängt. Ich muss an einen Geschäftsmann denken, der an Krebs starb, während er nach seiner Verurteilung in einer früheren Prozesswelle in Haft sass. Jedes Mal, wenn sich der Lauf der türkischen Politik ändert, geschehen menschliche Tragödien. Es sind so viele, dass sich niemand an die Namen der Opfer erinnert.
24. Juli: Jeder ein Teil des Teufelskreises
Die grösste Oppositionspartei des Landes lädt zu einer Kundgebung zugunsten der Demokratie, sogar ein Grossteil der Linken ist anwesend. In den sozialen Medien zirkulieren Spottvideos über Fethullah Gülen. Ein bitteres Lächeln macht sich in meinem Gesicht breit. Ich muss an die Tausende von Leuten denken, die ins Gefängnis wanderten oder ihren Job verloren, als die Gülen-Bewegung gemeinsam mit der Regierung Wirtschaft, Medien und Justiz jahrelang kontrollierte. Nun kursiert eine Liste von der Bewegung nahestehenden JournalistInnen, die verhaftet werden sollen. Die Zeiten zwingen jeden und jede, Teil des Teufelskreises von politischer Vergeltung zu werden. Es fällt mir schwer, einen Sinn für Gerechtigkeit zu bewahren.
26. Juli: PragmatikerInnen der Geschichte
Ein historischer Augenblick. Am Hauptquartier der Regierungspartei wird ein gigantisches Plakat von Atatürk aufgehängt. Die AKP, die pragmatischste Partei der modernen türkischen Geschichte, hat wohl ihre Alliierten gewechselt: statt der Islamisten stützt sie nun die Säkularen – diejenigen also, die sie jahrzehntelang bekämpfte, als ob es kein Morgen gäbe. Der bekannteste Kolumnist des Landes schreibt eine Lobeshymne auf Atatürk, die sich wie ein Primarschulaufsatz liest. Sein Standpunkt scheint dieser Tage à la mode zu sein.
Ich kann meine Ansichten nicht einfach aus politischen Gründen ändern. Ich sollte wohl wirklich aufhören zu reden. Doch zugleich schäme ich mich, wenn ich nicht schreibe. Viele denken vermutlich ähnlich. Seit ein paar Jahren verwenden wir ein Sprichwort besonders häufig: «Wenn Elefanten kämpfen, wird das Gras zerquetscht.» Ich fühle mich gerade wie dieses Gras.
28. Juli: Die AntiimperialistInnen sorgen sich
Wir halten einfach still, derweil die Scharfschützen der Politik GülenistInnen jagen. Niemand regt sich, um nicht für eine Zielscheibe gehalten zu werden. Im grossen Stil werden Militär, Verwaltung und Bildungswesen umgewälzt. Zehntausende werden verhaftet. Ich begreife nun den berühmten chinesischen Fluch «Mögest du in interessanten Zeiten leben!». In wenigen Tagen wird sich Erdogan mit Putin treffen, während viele die Nato infrage stellen. Welch Ironie, dass selbst die AntiimperialistInnen deshalb besorgt sind. Die Zeiten sind wahrlich interessant.
29. Juli: Wo werden die Verhafteten untergebracht?
Auch JournalistInnen, die seit Jahren schreiben, dass Leute wie ich für ihre Kritik an der Regierung oder der Gülen-Bewegung ins Gefängnis gehören, sind verhaftet worden. Über diesen Umstand bin ich jedoch alles andere als erfreut. Ich frage mich, wo all die Tausende Verhafteten untergebracht werden sollen. Vor zehn Jahren hat man für die Säkularen gigantische Gefängnisse gebaut – jetzt werden sie für mutmassliche GülenistInnen verwendet.
1. August: Neue Version der Geschichte
Wie ich erwartet habe, wird es nun auch im Ausland absurd. In Somalia muss ein Spital wegen Verbindungen zur Gülen-Bewegung schliessen – und weil die türkische Regierung Hauptgeldgeber war. Der Chef der Einrichtung ist schockiert. «Die türkische Regierung hat uns mehrfach versichert, dass wir grossartige Arbeit leisten. Wie konnte das passieren?» Eine gute Frage. Doch um sie zu beantworten, müssen wir in die Zeit des Kalten Kriegs zurückgehen. Wir müssen davon sprechen, wie islamistische Gruppierungen in der gesamten Region ermächtigt wurden, gegen die «kommunistische Gefahr» zu kämpfen. Damals hat die Weltgemeinschaft leider nicht zugehört. Sie war zu sehr damit beschäftigt, das türkische Modell zu preisen – die perfekte Verbindung von moderatem Islam und Demokratie. Und heute hat gar niemand mehr Zeit, über Geschichte zu sprechen.
Ich frage mich, ob es jemals eine Version der Geschichte gab, die vom zertretenen Gras nach dem Elefantenkampf geschrieben wurde.
Aus dem Englischen von Anna Jikhareva.
Die Chronistin
Die 43-jährige Türkin Ece Temelkuran ist Schriftstellerin, Journalistin und Juristin. In den zwölf Sachbüchern und Romanen, die sie bisher veröffentlicht hat, schrieb sie etwa über die Rolle der Frau in der türkischen Gesellschaft oder über das Verhältnis zwischen Armeniern und Türkinnen. 2011 verlor Temelkuran ihre Stelle als Journalistin beim Fernsehsender Habertürk, nachdem sie kritisch über einen Bombenangriff des türkischen Militärs berichtet hatte, bei dem 36 kurdische Jugendliche gestorben waren. Ece Temelkuran lebt in Istanbul.
Taksimplatz in Istanbul: Versammle sich, wer darf
Schon oft wurde der Taksimplatz im Zentrum Istanbuls zur Bühne für symbolträchtige politische Auseinandersetzungen. Hier werden bestehende Verhältnisse bekämpft oder verteidigt, infrage gestellt oder zementiert. Deshalb kann ein Blick auf den Taksimplatz verraten, welcher Wind in der Türkei gerade weht.
Im Juni 2013 hielten Tausende AktivistInnen der Gezi-Bewegung den Platz während fast zweier Wochen besetzt. Zuvor war im angrenzenden Gezipark eine rasch gewachsene Gemeinschaft zum Widerstand gegen Bauprojekte der Landesregierung entstanden. In kurzer Zeit wurde daraus ein Zusammenschluss verschiedenster Bewegungen, die gemeinsam Anspruch auf die Mitgestaltung des öffentlichen Raums erhoben. Ihr Unmut gegen die staatlich forcierte Gentrifizierung und Segregation Istanbuls weitete sich zu einer grundsätzlichen Kritik an den Allmachtsgelüsten der Regierung aus. Insbesondere Recep Tayyip Erdogan, damals noch Ministerpräsident, wurde frontal angegriffen. Bald fanden in fast allen grossen Städten der Türkei ähnliche Proteste statt – «Taksim ist überall», lautete ein beliebter Slogan.
Der Platz wurde am 12. Juni 2013 geräumt. Um unliebsame Menschenansammlungen zu verhindern, stand die Polizei seither bereit, um den Zugang einzuschränken. Für linke Feierlichkeiten zum 1. Mai wurde keine Genehmigung mehr erteilt. Auch Istanbuls jährliche Gay Pride, die seit 2003 auf dem Taksimplatz ihren Ausgangspunkt hatte, ist seit dem vergangenen Jahr nicht mehr erlaubt. Die Verbote wurden teils gewaltsam durchgesetzt.
Seit dem Putschversuch gehören politische Demonstrationen auf dem Taksimplatz jedoch wieder zum Alltag. Erneut versammeln sich die Menschen in einem allabendlichen Ritual um das «Monument der Republik»: Die Regierung und Teile der Opposition rufen zum gemeinsamen Widerstand gegen die «Verräter der Nation». Die Polizei lässt sie gewähren.
Wo Erdogan vor drei Jahren auf Transparenten verschmäht wurde, prangt heute neben riesigen Landesflaggen das Konterfei des Präsidenten von den Häuserfassaden. Einmal mehr lässt der Taksimplatz erahnen, woher der Wind weht.
Raphael Albisser