Mythos Erdogan: Die «Koran-Nachtigall» und ihr wundersamer Aufstieg aus der Asche
Eine Reinkarnation des sprichwörtlichen unbesiegbaren Osmanen: Der Status, den der türkische Präsident schon immer anstrebte, ist ihm jetzt gewiss.
«Ich habe entschieden, dass die Türkei eine autoritäre Republik ist, die von einem mit der umfassendsten Exekutivvollmacht ausgestatteten Präsidenten regiert wird.» Das Verdikt klingt nach dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan – es stammt aber von Mustafa Kemal Atatürk. Gesagt, ja ausgestossen hatte der türkische Übervater es 1923 bei einer Debatte des Parlaments in Ankara. Als sich die zerstrittenen Abgeordneten der ersten Grossen Nationalversammlung nicht über die neue Verfassung einigen konnten, trat Atatürk aus dem Hintergrund plötzlich an die Rednertribüne. Und so wurde es dann beschlossen.
Manche hatten den Verdacht, er habe den Streit unter den Abgeordneten selbst angezettelt, um als Retter aus einer ausweglosen Situation aufzutreten. Vor dieser historischen Folie wäre der Diktator vom Bosporus heute womöglich nicht das Ausnahmegewächs, sondern der legitime Erbe des Gründervaters der Republik. Wie der unnachsichtige «Vater aller Türken» gebärdet Erdogan sich allemal.
Wieder einmal hat sich der Geburtsfehler der türkischen «Demokratie», die charismatische Zentralautorität, durchgesetzt. Schwer zu sagen, was an dem gescheiterten Coup schlimmer war: dass die Putschisten Erdogan einen Vorwand geliefert haben, die Daumenschrauben der Diktatur noch stärker anzuziehen als bislang schon. Dass sie ihm das letzte fehlende Argument für sein Präsidialsystem frei Haus geliefert haben; dass nur ein autoritärer «Führer»-Staat die Republik «beschützen» kann. Oder dass sie ihm den Nimbus des Unverletzbaren, Unbesiegbaren, Gottähnlichen beschert haben.
«Im Kampf Seide tragen»
Für Erdogan gab es schon immer ein Trauma. Am 17. September 1961 baumelte Adnan Menderes, der erste frei gewählte islamische Ministerpräsident der Türkei, nach dem Staatsstreich vom Mai 1960 am Galgen. Als Erdogan im August 2014, ein Jahr nach den Gezi-Protesten, mit fast 52 Prozent der Stimmen erster direkt gewählter Präsident der Republik wird, spricht er selbst von einer «Wiedergeburt aus der Asche». Mehr noch hat aber die Geschichte Menderes’ ideologischen Wiedergänger dieser Gefahr in der Putschnacht wie Phönix der Asche entsteigen lassen. Im tadellos sitzenden Anzug, das Staatswappen im Knopfloch, das ungeliebte Atatürk-Porträt im Rücken, präsentierte er sich auf dem Istanbuler Flughafen. Getreu seiner Maxime: «Damit man majestätisch wirkt, empfiehlt es sich, im Kampf Seide zu tragen.»
Nun ist auch Erdogan Staatsmann und Feldherr, ein «Kriegsheld» wie sein Vorgänger nach der historischen Schlacht von Gallipoli, bei der Kemal im August 1915 den Vormarsch der Briten auf Istanbul verhinderte. Binali Yildirim, Erdogans neuer, willfähriger Ministerpräsident, schrieb beim obligatorischen Besuch im Atatürk-Mausoleum zu Ankara nach dem Putschversuch die Formel von einem Strassenkampf gegen die Erhebung als «Zweitem Unabhängigkeitskrieg» ins Gästebuch.
Eines Tages werden türkische Schulkinder im Geschichtsbuch das Kapitel, wie Erdogan der Ermordung in seinem Hotel an der Ägäis entkam, so memorieren müssen wie Atatürks Schlachten zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Oder sie werden das Präsidentenflugzeug, mit dem er von seinem Ferienort Marmaris zum besetzten Atatürk-Airport flog, um den Putschisten persönlich die Stirn zu bieten, in einem Erdogan-Museum besuchen können. So wie man heute noch im Hafen der Schwarzmeerstadt Samsun den Landesteg besichtigen kann, an dem Kemal 1919 seine nationale Erhebung begann.
Der Mythos schafft eine Ordnung der Wirklichkeit, die sich an Gestalten orientiert. Der Mythos Erdogan hatte schon vor dem Putsch begonnen. Die Legende preist ihn als Mann, der aus dem Volk kommt. Wieder und wieder wird die Kindheit des Sesamkringelverkäufers in Istanbuls schäbigem ProletarierInnenbezirk Kasimpasa beschworen. Der Junge, der seiner Mutter die Füsse küsste.
Und als das Fernsehen zufällig in genau der Sekunde zugegen war, in der der Präsident im Dezember 2015 auf der Bosporusbrücke einen ob seiner Familienprobleme verzweifelten Mann davon abhielt, durch einen Sprung in die Tiefe Selbstmord zu begehen, schien er dem legendären Kalifen Harun al-Raschid zu gleichen, der gern nachts durch Bagdad streifte, um ein Auge auf seine ungehorsamen Untertanen zu richten.
Wegen jeder politischen Kritik zerrte Erdogan seine KritikerInnen vor Gericht. Der Stilisierung zum «Sultan» oder «Pascha» widersprach er freilich nie. Ihn deswegen als begnadeten Machiavellisten zu deuten, der nur seine persönliche Macht im Auge hat, greift aber zu kurz. Sonst hätte sich der Strenggläubige nicht so viel Mühe mit der islamischen Umerziehung seiner Nation machen müssen. Von der Erziehung einer «religiösen Generation» bis zum Plädoyer für die Abschaffung der Koedukation und der Rückverwandlung des Museums Hagia Sophia in eine Moschee – der aufbrausende Potentat war immer ideologischer Überzeugungstäter.
Schon als Chef des Jugendverbands der Nationalen Heilspartei seines politischen Ziehvaters Necmettin Erbakan, den 1997 ebenfalls das Militär aus dem Amt hievte, trug er den Spitznamen «Koran-Nachtigall». Jede politische Rede begann Erdogan mit einem Gedicht oder Koranvers. «Meine Referenz ist der Islam», bekannte der Mann, der sich selbst gern «Imam von Istanbul» nannte, 1997 in einer Rede, die ihm wegen des Zitats eines Gedichts des nationalistischen Poeten Ziya Gökalp zehn Monate Gefängnis und ein lebenslanges Politikverbot eintrug.
Die Stunde Erdogans
Aus dem Putsch fast zwanzig Jahre später geht Erdogan nun als «Augenblicksgott» (Ernst Cassirer) hervor, den die Geschichte in der mythischen Weltsicht in Zeiten der Umwälzung und grosser Erregung gebiert. Seine Gestalt und die «neue Türkei», die er bauen will, sind jetzt eins. Von jetzt an werden seine Gefolgsleute ihn noch glühender wie den «geliebten Propheten» anbeten, dem zu folgen Erdogan bei jeder noch so zweifelhaften Aktion vorgibt.
Der mythische Status, den er immer anstrebte, ist ihm nun sicher. Egal ob er 2023 – dem 100. Jahr der Republikgründung – noch im Amt ist. Erdogan ist nun endgültig die Reinkarnation des sprichwörtlich gewordenen, unbesiegbaren Osmanen, in dessen Tradition er sich sieht und dessen Erbe er ständig beschwört. Gegen dieses Wunderkind dürfte so bald kein politisches Kraut gewachsen sein.
Wenn mythische Energien vor allem in tiefgreifenden gesellschaftlichen Krisenzeiten die Funktion haben, ein in sich verunsichertes Kollektiv wieder zusammenzuschweissen, dann ist dies die Stunde Erdogans. Indem er die Menschen zum Schutz der Demokratie auf die Strassen rief, begründet ausgerechnet der Schlächter von Gezi das Narrativ des gemeinsamen «Kampfes für Demokratie und Freiheit».
Man sollte sich von seiner Ankündigung, alle Beleidigungsklagen einzustellen, nicht täuschen lassen. Die Verhaftungen von KritikerInnen aller Couleur schreiten fort. Ein Mythos wird üblicherweise auf dem Knochenberg derer errichtet, die ihn infrage stellen. In vorauseilendem Hass hatte Kadir Topbas, Istanbuls AKP-Bürgermeister, beim Coup getötete Putschisten auf einem «Friedhof der Vaterlandsverräter» beerdigen lassen.