Im Affekt: Bewerbung beim obersten Schriftleiter
Letzten Sonntag im «SonntagsBlick» zum Beispiel. Da liess uns René Lüchinger (57), bis Februar Chefredaktor des «Blicks» und seither Chefpublizist der «Blick»-Gruppe bei Ringier, in das Büro von Eric Gujer (54), dem «obersten Schriftleiter» der NZZ, eintreten. So sind wir gleich zu Beginn darauf gefasst, um was es in diesem Chefbüro geht: «um die Werte des Westens, um Form und Inhalt, um Welterklärung und Meinungsmacht».
«Oberster Schriftleiter»: Ja, wir haben richtig gelesen.
Hier also sitzt und navigiert es, das intellektuelle Kommando der NZZ. Längst schon ist Lüchinger in Ehrfurcht erstarrt. Nun aber spitzt er seine Feder, um die physische Erscheinung des «feingliedrigen obersten NZZ-Leitartiklers» zu würdigen. «Da formuliert kein Schreibtischtäter», lässt uns Lüchinger wissen. Nein, da sitzt und denkt eine Lichtgestalt: «Die Gestik ist sparsam. Nur manchmal, wenn es etwas zu betonen gibt, fährt der Chefredaktor seine Finger aus, gewissermassen als Ausrufezeichen. Die Augen aber, die leuchten verhalten, passend zur distinguierten journalistischen Leidenschaft des Hauses.»
Geheimnisvoll, verhalten: wie es sich für einen Schriftleiter gehört, der für die Stärkung des Geheimdienstes eintritt, dem er sein Geheimwissen gelegentlich auch zur Verfügung stellt. Für einen freien Geist, der Edward Snowden in seinem Blatt konsequent einen «NSA-Verräter» nennt. Nein, «da formuliert kein Schreibtischtäter», sondern einer, der als Korrespondent «an den Brennpunkten der Welt» war.
Lüchingers Erkenntnisgewinn, den er uns am Schluss der Heiligsprechung mit auf den Weg gibt: Die «pensionierten Journalisten», «meist Altlinke, die in den pazifistischen Zeiten der 1960er-Jahre sozialisiert worden sind» und die Gujer auf der Internetplattform «Infosperber» «Kriegshetze in der NZZ» vorwerfen, hätten vielleicht noch nicht gemerkt, «dass die Welt von heute nicht mehr die damalige ist».
Soweit Lüchingers Bekenntnis. Vielleicht aber auch nur ein Bewerbungsschreiben.
Bereits 2014 publizierte Lüchinger eine «Hommage in sechs Akten» über den Ringier-Schriftleiter Frank A. Meyer.