Rio Reiser: Zwischen Initialzündung, Coming-out und Schlagermilieu
Mit einem Bein im Gestern und dem anderen im Morgen: Eine grossartige CD-Box würdigt Rio Reiser (1950–1996) in all seinen Widersprüchen.
Was haben diese Leute gemeinsam? Marianne Rosenberg und die Terrorgruppe, Wir sind Helden und Fettes Brot, Xavier Naidoo und Die Sterne, Slime und Landser, Gitte Haenning und Die Toten Hosen, Die Prinzen und Rocko Schamoni? Alle lieben Rio Reiser. Oder covern seine Songs. Kann Reiser von so unterschiedlichen Leuten vereinnahmt werden, weil er seit zwanzig Jahren tot ist und sich nicht mehr wehren kann? Oder ist es, weil sich seine Musik so leicht vereinnahmen lässt von Schlagersängerinnen wie Allerweltsrockern, Linksradikalen wie Reichsbürgern, Feministinnen wie Maskulinisten, Diskursrockern und Deutschrockern? Und Neonazis?
Antworten gibt die «Blackbox Rio Reiser». 16 CDs, 363 Songs, die meisten davon bisher unveröffentlicht, über sechzehn Stunden Musik, dazu ein Buch im LP-Format. Fürs gemeine Radiopublikum ist Reiser der «König von Deutschland», nach seinem grössten Solohit. Andere verbinden ihn mit der Band Ton Steine Scherben und ihren Parolensongs aus den Siebzigern: «Keine Macht für Niemand!» oder «Macht kaputt, was Euch kaputt macht!».
«Geiler als die Stones!»
Die «Blackbox» zeigt viele Gesichter des Rio Reiser und wirft die Frage auf: Wer ist das eigentlich, dieser Ralph Christian Möbius, wie er mit bürgerlichem Namen hiess? Dabei gibt Reiser in seinen Songs doch ständig Auskunft über sich: «Ich bin nicht über dir, ich bin nicht unter dir / Ich bin neben dir, komm, schlaf bei mir.» Oder auch: «Ich will nicht werden, was mein Alter ist.» Solche Songs in der ersten Person Singular gibt es reichlich auf der «Blackbox», und viele wurden aus guten Gründen zu Reisers Lebzeiten nicht veröffentlicht. Etwa der dröge Deutschrock der Käpt’n-Hammer-Band aus dem Jahr 1976. Da singt Rio, wie er von seinen vielen Freunden genannt wird: «Ich will ich sein, anders kann ich nicht sein / Ich will nicht nur sehen, was alle sehen / Nicht nur machen, was alle machen / Ich will leben, wie ich leben will / Ich will lieben, wen ich lieben will.»
Die Selbstbehauptung verliert an Wucht, wenn sie als patent radiofreundliche Mucke daherkommt. Und nicht im Sound der frühen Ton Steine Scherben, von dem Ted Gaier, Mitgründer der Hamburger Punkband Die Goldenen Zitronen, 2005 schrieb: «Und natürlich war es auch der Sound, der, anders als im Tüftelwahn der siebziger Jahre üblich, roh und direkt daherkam. Geil wie die Stones, nur noch geiler als die Stones, Alter! Dieser direkte Sound verstärkte die unbedingte Dringlichkeit der Texte und machte klar: Auch hier wird von Revolution geredet, nicht von Jenseitsversprechungen oder Individualkram.»
Die Stones, mit denen die Scherben nicht nur die Steine im Bandnamen teilen, sondern auch das Schicksal der künstlerischen Bedeutungslosigkeit nach ein paar grossen ersten Jahren, die Stones also covert der junge Rio Reiser daheim auf seinem Tonband, auch die Beach Boys, Bob Dylan und die Kinks. Die Tonqualität dieser Home Recordings schwankt zwischen Lo-Fi und No-Fi – egal, zu kostbar, zu aufschlussreich sind die Zeugnisse musikalischer Prägungen. Rio Reiser singt nicht nur weisse Beatmänner, er hat auch Lieder von Frauen und von Afroamerikanern im Wohnzimmerrepertoire: Sonny and Cher, The Crystals, The Four Tops, Sam Cooke. Lutz Kerschowski, Herausgeber der Box, meint, Reiser sei nicht der beste deutsche Rock-’n’-Roll-Sänger: «Ich würde eher sagen Soulsänger.»
Soul hin, Stones her, die Grössten sind die Beatles: «Das sind wir, das sind die, die nie ‹erwachsen› werden. Die sind wie Mädchen.» So zitiert Gert Möbius den Beatles-Schock seines Bruders in seiner Rio-Reiser-Biografie «Halt dich an deiner Liebe fest»: «Da sangen Jungen wie Mädchen, es war hart und weich zugleich. Es gab mir eine ungeheure Kraft.» Hart und weich zugleich, das nimmt sich Rio Reiser zu Heart and Soul. Nach den Covers und eigenen Songs in englischer Sprache folgen Ende der Sechziger erste Gehversuche auf Deutsch, etwa die Dylan-Impersonation «Asphaltcowboy»: «Du bist ein Engel in der Hölle, du bist vom selben Baum wie ich … / Ich bin nicht krank, wenn ich dich liebe, du bist nicht krank, wenn du mich liebst … / Ja, ich bin vom andern Ufer, und der Fluss ist unsre Angst …» Ein frühes Coming-out, das nie rauskommt, damals. Gert Möbius: «Rio hat erkannt, dass er homosexuell ist, und hatte dadurch Probleme mit Freunden. Damals gabs noch den Paragrafen gegen Homosexualität.»
Es ist einer der vielen Widersprüche des Rio Reiser: Als Sänger von Ton Steine Scherben singt er revolutionäre Lieder, aber seine eigene Homosexualität bringt er nicht zur Sprache. Dafür umso mehr in den Songs, die jetzt auf «Blackbox Rio Reiser» zum ersten Mal vorliegen. Mit der queeren Theatergruppe Brühwarm tingelt er in den Siebzigern über die Alternativbühnen der Bundesrepublik und bringt Heteromänner ins Grübeln: Bin ich wirklich bloss hetero? Manche kommen vom Grübeln ins Testen.
In der Wortspielhölle
«Sie ham mir ein Gefühl geklaut, und das heisst Liebe. / Denn meine Liebe ist in ihrer Welt verboten … / Wir haben gelernt, uns selber zu hassen …» So singt Reiser mit Brühwarm im Musical «Nymphomannia», mit doppeltem n. Die Songs heissen «Grethe Heiser und Zarah Frustra», «Heute blasen wir den Marsch, spielen Flöte auf dem Arsch» oder auch «HETERRORIST». Der ranzig-regressive Humor aus der Wortspielhölle ist in der Späthippielinken der Siebziger ähnlich beliebt wie das infantile Udo-Lindenberg-Deutsch. Noch ein Widerspruch: Unter tätiger Mithilfe von Rio kalauert die subkulturelle Hegemonie der Hippies ihrem Untergang entgegen. Rio ist aber auch mit dabei, als eine neue Subkultur die alte vom Hof jagt. Punk, New Wave, neue Sounds, neue Looks, neue Haltungen. Rio steht mit einem Bein im Gestern und mit dem anderen im Morgen.
Das Gleichzeitige im Ungleichzeitigen hat einen Namen: «Transplantis – eine Schwule After Punk Show». Das «Trans» in Transplantis bezeichnet nicht nur sexuelle Transgression, es steht auch für eine kulturelle Transitphase, eine Zeit des Übergangs, der Paradigmenwechsel. Manche Songs klingen, als hätte die Band zu viel gekifft und zu viel gekokst – gleichzeitig. Hat sie wohl auch. Die «Schwule After Punk Show» wird 1978 im Berliner Tali-Kino aufgeführt, spätabends nach der «Rocky Horror Picture Show». Im Publikum sitzen Sannyasins neben einem dreizehnjährigen Punk namens Ben Becker. Nina Hagen kommt vorbei und will gleich mitspielen, Leute aus der Fassbinder-Entourage schauen rein, vielleicht auch Iggy Pop und David Bowie, die wohnen ja gerade in der Mauerstadt. An der Kinokasse sitzt Blixa Bargeld, der spätere Sänger der Einstürzenden Neubauten, der 1996 im «Spiegel» den Nachruf auf Rio Reiser schreiben sollte. Für ihn war Reiser die «Initialzündung für die deutsche Rockmusik», wie er dort schrieb: «Ton Steine Scherben waren die einzige Band, der es gelang, die Idee von Rockmusik eins zu eins ins Deutsche zu übertragen.»
Die «Blackbox Rio Reiser» ist ein faszinierendes Zeitdokument. Aber auch das Zeugnis einer zerrissenen Biografie, die sich anbietet für posthume Vereinnahmungen jeder Art. Scheinbar orientierungslos driftet Reiser hin und her zwischen linken Hausbesetzern und dem deutschen Schlagermilieu, zwischen queerem Sub und drögem Deutschrock. Immer wieder singt er vom Rauskommen, vom Abhauen. Dass er raus wollte, wusste Rio Reiser. Nur wohin, das wusste er nicht so genau.
Gert Möbius: «Halt dich an deiner Liebe fest. Rio Reiser». Aufbau Verlag. Berlin 2016. 351 Seiten. 32 Franken.
Rio Reiser: Blackbox. Möbius Records. 16 CDs. 170 Franken