20 Jahre «OK Computer» : Wenn einer auf den Mond zeigt

Nr.  24 –

Als Radiohead vor zwanzig Jahren «Ok Computer» veröffentlichten, hielten es die wenigsten KritikerInnen für ein Meisterwerk. Dabei hatte die Band um Thom Yorke in monatelanger Abgeschiedenheit die Rockmusik auf eine Art erneuert, die bis heute nachwirkt.

Unumstritten war das Ding nicht: «Ihr Art-Rock kennt mehr Soundeffekte als Pink Floyds Schnarchorgie ‹Dark Side of the Moon›», schrieb US-Starkritiker Robert Christgau 1997 über Radioheads «OK Computer». «Aber er hat weniger Drive und ist genauso öde», schloss er seinen Kurzverriss.

Die Analyse – Progrock, effektverliebt, Konzeptalbum, Pink Floyd – haben damals viele geteilt. Aber die meisten ergaben sich, wie Simon Reynolds, ein anderer skeptischer Grosskritiker, am Ende zähneknirschend den «bezaubernden Texturen» dieser stilistischen Tour de Force. Der kritische Durchbruch war dem britischen Quintett ja schon mit dem Vorgänger «The Bends» zwei Jahre zuvor gelungen. Doch anders als beim mittlerweile etwas überschatteten Frühwerk wächst der Ruhm von «OK Computer» seither stetig. Heute, zwanzig Jahre später, könnte man fast den Eindruck bekommen, die damalige Einschätzung der LeserInnenschaft des britischen Hochglanzmusikmagazins «Q» habe sich bewahrheitet, und «OK Computer» sei wirklich «das wichtigste Album des 20. Jahrhunderts».

Zumindest, da lag Christgau mit dem Pink-Floyd-Vergleich richtig, handelt es sich bei «OK Computer» wohl um den letzten amtlichen Albumblockbuster, bevor uns Napster ins Reich der heruntergeladenen Tracks kickte.

Der Rock im Abseits

Zum 20. Geburtstag von «OK Computer» sind längst die originalen Wertungen von Magazinen wie dem «Rolling Stone» auf die jeweils volle Punktzahl hochkorrigiert. «Pitchfork», das wohl einflussreichste Poporgan, hat dem Album eine Strecke aus mehreren grossen Essays und einigen Funfacts gewidmet, dazu zwölf visuelle Künstler angeheuert, um einzelne Songs zu interpretieren. Ein Computernerd hat wiederum die Autobahn decodiert, die der technoiden Covergrafik zugrunde liegt.

Die Band um Mastermind Thom Yorke scheint die öffentliche Meinung zu teilen und bringt zunächst ein Tripelvinyl mit drei Session-Outtakes und acht B-Seiten; und in ein paar Wochen erscheint noch eine CD-Box mit einem ganzen Buch voll Artwork und solchen Sachen.

Das Album stach auch deswegen so hervor, weil Rock damals nicht gerade vorteilhaft aussah, der Postrock von Pavements in den USA oder Radioheads Britpopkollegen von Blur, Oasis oder The Verve mit ihrem Kinks-Revival: vor allem angesichts des futuristischen Hip-Hop von Missy Elliott, des Autorentechnos von Aphex Twin oder des Auf-die-Glocke-Clubvitalismus der Daft Punk. Die hippere Jugend der Zeit zappelte schon fast ein Jahrzehnt lang ausgemergelt, hysterisch und nackt in den Technokellern der westlichen Städte herum oder plünderte begeistert Vintagesynthies und Morricone-Soundtracks.

«OK Computer» nimmt die technologische Entwicklung immerhin zur Kenntnis (und Ennio Morricone kannten sie auch, wie «Exit Music», ihre Nummer für Baz Luhrmanns «Romeo and Julia», zeigt). «OK Computer» klingt zwar weniger nach einer innigen Umarmung des Geräts als nach einem geschäftsmässigen Achselzucken. Aber clevererweise hört sich das Album nach tief erlittenem Kulturpessimismus an und beschwört zugleich atemlos die neue Ordnung – in einer Zeit, in der man mit Handtelefonen nur telefonieren konnte und die private Digitalwelt sich wie pedalbetrieben bewegte.

Vermutlich trägt wiederum der zumal musikalische Verzicht auf allzu technoiden Klang dazu bei, dass sich der Sound gut gehalten hat. An der Oberfläche hören sich die meisten Tracks nach Rock an. Zu oft empfindet man den Stolz des manuellen Arbeiters, der sich an ein kompliziertes Gerät gewagt hat, ein bisschen peinlich. Produzent Nigel Godrich, der sonst schon mit Clubmusik arbeitete, und die Band hingegen nahmen die Elektronik einfach als neues Instrument; zur Nachhaltigkeit des Albums gehört, dass man die eigentliche Raffinesse und Feinheit in den Songwirbeln und auch den wilden Gitarrensounds von Jonny Greenwood erst nach und nach mitbekommt.

Miles Davis’ «Bitches Brew», erklärte Yorke, sei ein starker Einfluss gewesen, aber neben rhythmischer Komplexität erkennt man auch die psychedelisch-synthetische Motorik des Krautrock, die späten Studio-Beatles, als einzige Vertreter des Britpopkanons, und Grunge.

Man meint rückblickend, schon die Lässigkeit zu ahnen, mit der die Generation Youtube historische Hierarchien in der Eroberung des Archivs ignorieren würde – statt zu zitieren, schmilzt die Band, die Godrich als sechstes Mitglied adoptierte, die Zeiten einfach ein. Richtig losgelassen, im künstlerischen Sinn, haben sie allerdings erst in den vollends freihändigen Sounds und Atmosphären von «Kid A» und «Amnesiac».

Vage soziale Unbehaustheit

Die nicht nur von Robert Christgau gebrandmarkte Rückschau auf Pink Floyd bricht natürlich mit dem Punkethos. Zweifellos kalkuliert: Wo durch die elektronische Revolution im Pop gerade DIY 2.0 in den StudentInnenschlafzimmern eingeläutet wurde, frönten Radiohead dem Produktionsfetisch, flohen aufs Land, tüftelten monatelange an ihren Layern. Nebenbei erinnert auch die Integration von Designer Stanley Donwood seit 1994 an die Zeiten, als Roger Dean für Yes oder die Grafiker von Hipgnosis für Pink Floyd gleichsam als Corporate Designer wirkten.

Aber Thom Yorkes helle Hysterie verdankt sich natürlich auch der «Angst» des US-Grunge, des letzten grossen Rockstils und Soundtracks zum Ende des Kalten Kriegs. «Creep», 1992 Radioheads erster Hit, war eine Art Britgrunge, und die kränkelnden Gitarren und schmierigen Grooves – exemplarisch in «Electioneering» – ziehen sich auch durch dieses Album. Inhaltlich hat die Beunruhigung aber nichts mit dem Slackergefühl zu tun, sozial abgehängt zu sein. Unter der dräuenden Noir-Düsternis, die an Stimmungen wie in den Büchern von Philip K. Dick erinnert, leidet Yorke an vager sozialer Unbehaustheit, also an anonymen Glücksschaffnern und «kleinen Gucci-Piggies» wie im Comicvideo zu «Paranoid Android». Ganz sicher ist Thom Yorkes Space anders als bei den Afrofuturisten der späten Neunziger kein Ort, an dem man eine neue Supa-Dupa-Identität für sich finden kann.

So unhumorig, wie es immer heisst, sind die dystopischen Trips der Band aber vielleicht nicht. Das suitenförmige «Paranoid Android» und das spacige Geheul von «The Tourist» erinnern an Douglas Adams’ nicht so todernsten «Anhalter», und das psychedelisch möhrende «Subterranean Homesick Alien» spielt natürlich auf Bob Dylans surrealistischen Rant an. Und das tolle, aber wimmernde «Karma Police» scheint inspiriert von Jonathan Lethems unterhaltsamem Sci-fi-Noir von 1994, «Gun, with Occasional Music», dessen Gesellschaft für moralische Verfehlungen Punktabzüge auf Karmakarten gibt, bis man – statt im Gefängnis – im Kühlschrank landet.

Das Okay und seine Wirkung

Schon wahr: Die Band breitet hier ohne Scheu Pathos, Kitsch und Selbstüberhöhung aus. Sie sind damit auch irgendwie schuld an Coldplay und Elbow mit ihrem Emo-Quatsch – wenn ein Weiser auf den Mond zeigt, schaut der Depp auf den Finger. Die Technik hatte aber auch eine bewusstseinsverändernde Wirkung: Es war das Okay zum Computer, das wie bei Radiohead kurz darauf die Flaming Lips zu ihrem gar nicht so anders gelagerten Meisterwerk «Soft Bulletin» führte. Und während es mit den Strokes und White Stripes ein kurzes Aufbäumen archaischer Rockreduktion gab, so überlebte das Genre doch vor allem in den bis in die Dancefloors gebrochenen Varianten von Indiehipstern wie Animal Collective, Dirty Projectors oder gerade letztes Jahr Bon Iver mit dem grossartigen «22, a Million». Es ist dabei kein Zufall, dass zu den Fans des Albums auch das Popgenie Kanye West gehört, der wiederum Thom Yorke für ein Genie hält: Musik bedeutet für beide, Regeln und Grenzen zu ignorieren.

Radioheads Pomp, Kalkül, Gewinsel fügen sich in ein insgesamt sehr modernes, befreites Sausen und Brausen – noch die leisen Passagen beben gleichsam vor der Erwartung des Sturms. Man geniesst gerade die Unschärfe, die Dichte und die Uferlosigkeit. Langweilig ist hier auch nach zwanzig Jahren nichts. Natürlich haben sie auch sehr viel mehr Effekte als Pink Floyd. Was an der nerdigen Detailarbeit von «OK Computer» so überzeugt, ist eine sehr zeitgenössische Unschärfe – und ein ganz altmodischer Kontrollwahn, der sie treibt.