Ausschaffungsinitiative: Das grosse Denunzieren in den Sozialämtern
Seit Oktober wird die Ausschaffungsinitiative umgesetzt. Anhand des neu geschaffenen Delikts des «unrechtmässigen Bezugs von Leistungen einer Sozialversicherung» zeigt sich, wie problematisch die Umsetzung ist.
Seit dem 1. Oktober ist die Ausschaffungsinitiative in Kraft. Für SozialhilfebezügerInnen ist die Änderung enorm. Neu können sie schon bei geringen Verstössen hart bestraft werden. AusländerInnen, die «missbräuchlich Leistungen der Sozialversicherungen oder der Sozialhilfe bezogen haben», können zusätzlich ausgeschafft werden. «Der SVP ging es mit ihrer Initiative auch darum, das Bild des ausländischen Sozialschmarotzers zu kultivieren», sagt der Strafverteidiger Peter Nideröst.
Sozialhilfemissbrauch ist nun ein in der Bundesverfassung festgeschriebener Ausschaffungsgrund. Daher musste ein neuer Strafgesetzartikel geschaffen werden. Neu findet sich im Strafgesetzbuch das Delikt «unrechtmässiger Bezug von Leistungen einer Sozialversicherung». Das ist eine deutliche Verschärfung. «Man wird neu sehr schnell kriminalisiert», sagt der auf Sozialhilferecht spezialisierte Anwalt Pierre Heusser. Bis anhin war dieses Delikt eine Übertretung. Je nach Kanton war es unterschiedlich geregelt. Die Strafe war maximal eine Busse. Nun ist es ein Vergehen, dass mit bis zu einem Jahr Gefängnis bestraft wird. Die Änderung betrifft SchweizerInnen wie AusländerInnen. Früher war das Delikt ähnlich wie Steuerhinterziehung geregelt. Vergass ein Sozialhilfebezüger beispielsweise, einen Nebenerwerb von 4000 Franken anzugeben, musste er den Betrag dem Sozialamt zurückerstatten. Zudem wurden vielfach seine Leistungen gekürzt. Neu wird man in einem solchen Fall strafrechtlich verurteilt und als AusländerIn zusätzlich ausgeschafft, ausser man gilt als Härtefall.
Die KlientInnen anschwärzen
Die Sozialarbeiterin Nina Meyer * aus Baselland sagt: «Bei uns Sozialarbeitern herrscht zurzeit eine grosse Unsicherheit.» Vor kurzem hat sie einen Brief erhalten, in dem steht, dass sie ihre KlientInnen bei Verdacht auf ungerechtfertigten Bezug von Sozialhilfe melden muss. Sie befürchtet, dass das Vertrauensverhältnis zwischen KlientInnen und SozialarbeiterInnen durch die Gesetzesänderung nachhaltig beschädigt wird. «Die Klienten wissen, dass sie mit jedem Fehltritt hart bestraft werden können. Bei Ausländern droht sogar eine Ausschaffung. Dadurch wird das Vertrauensverhältnis negativ beeinflusst.» Sie rechnet damit, dass Bedürftige aus Angst vor den möglichen Konsequenzen in Zukunft öfter darauf verzichten werden, einen Antrag auf Sozialhilfe einzureichen. Anwalt Pierre Heusser sagt: «Ich gehe davon aus, dass Sozialarbeitende bald vor Gericht gegen ihre Klienten aussagen müssen.»
Ausser in leichten Fällen folgt nach dem neuen Gesetz eine harte Bestrafung. Doch was ist ein leichter Fall? «Niemand weiss, was genau darunter zu verstehen ist», sagt Markus Schefer, Professor für Verfassungsrecht an der Uni Basel. Das Delikt des ungerechtfertigten Bezugs von Sozialleistungen ist für ihn zu vage formuliert: «Man hätte genaue Tatbestandselemente nennen müssen.» Die Schweizerische Staatsanwälte-Konferenz (SSK) empfiehlt, unter einer Deliktsumme von 3000 Franken von einem leichten Fall zu sprechen. Doch diese Weisung ist unverbindlich. «Was ein leichter Fall ist, wird wohl das Bundesgericht entscheiden müssen», sagt Pierre Heusser.
Teure Umsetzung
Alle Delikte, die nach dem 1. Oktober begangen wurden, fallen unter diese neue Regelung. «Bis jetzt sind mir noch keine Anzeigen bekannt», sagt Rolf Grädel, der Präsident der SSK. Auch unter den StaatsanwältInnen ist unklar, wie mit diesem neuen Delikt umzugehen ist. «Wir werden versuchen, alle Fälle zusammenzutragen, und im April einen ersten Erfahrungsaustausch durchführen.»
Am Beispiel des neu geschaffenen Delikts zeigt sich ein grundlegendes Problem der Umsetzung der Ausschaffungsinitiative. Möchte ein Staatsanwalt jemanden wegen Sozialhilfemissbrauch ausweisen, muss er ihn vor Gericht anklagen. Denn gemäss Bundesverfassung folgt auf dieses Delikt der Landesverweis. Ein solcher kann jedoch nur von einem Gericht ausgesprochen werden – nicht aber per Strafbefehl. Dieses Problem stellt sich bei allen Delikten, die gemäss Bundesverfassung mit Landesverweis sanktioniert werden. Die Umsetzung der Ausschaffungsinitiative wird dementsprechend zu hohen Kosten führen. Denn heute werden über neunzig Prozent aller Strafverfahren per Strafbefehl abgekürzt. Ohne beim Gericht Anklage zu erheben, spricht die Staatsanwaltschaft selbst die Strafe aus. Damit spart die Justiz viel Geld. «Aus Effizienz- und Kostengründen war es erklärtes Ziel der neuen Strafprozessordnung von 2011, so viele Verurteilungen wie möglich mit Strafbefehl zu erledigen», erklärt Anwalt Peter Nideröst. Gerichtsverfahren sind vergleichsweise personalintensiv und teuer, etwa wenn von Beginn weg dem Angeklagten eine amtliche Verteidigung zur Verfügung gestellt werden muss. «Menschen, denen ein Landesverweis droht, werden ihre Strafsache wohl häufig durch alle Instanzen ziehen», weiss Migrationsrechtler Nideröst aus Erfahrung. Um die Kosten und den Personalaufwand abzufedern, fordert die SSK, dass sie selber Härtefallprüfungen vornehmen kann. Als Härtefälle gelten vor allem Secondas und Secondos. In solchen Fällen würden die StaatsanwältInnen wie bisher Strafbefehle erteilen und von Landesverweisen absehen.
Armut statt Arme bekämpfen
Die Umsetzung des neuen Straftatbestands dürfte von Gemeinde zu Gemeinde verschieden ausfallen. Heusser erklärt zwei mögliche Richtungen: «Die einen Gemeinden werden sich mit Strafanzeigen zurückhalten. Man wird proaktiv versuchen, die Betroffenen auf mögliche Probleme hinzuweisen.» Andere Gemeinden werden eine harte Linie fahren. Jeden noch so kleinen Verstoss werde man zur Anzeige bringen, befürchtet Heusser. «Man wird versuchen, die Situation für Sozialhilfebeziehende so bedrohlich wie möglich zu gestalten», sagt er. Mit der Sozialhilfe verhält es sich ähnlich wie mit dem Steuerwettbewerb – einfach unter anderen Vorzeichen: Aus finanziellen Gründen wollen sich viele Gemeinden so unattraktiv wie möglich machen. Das neu geschaffene Delikt wird ihnen dabei in die Hände spielen.
Überall ist die Unsicherheit gross. Erst in mehreren Jahren wird sich durch Grundsatzentscheide des Bundesgerichts zeigen, was die Konsequenzen des neuen Straftatbestands sind. Nina Meyer hofft auf breiten Widerstand unter den SozialarbeiterInnen. Bis jetzt ist dieser jedoch ausgeblieben. Sie findet, dass die Entwicklungen in der Sozialhilfe schon seit längerem in eine falsche Richtung laufen: «Ständig werden Leistungen gekürzt und Sanktionen erhöht. Die strukturellen Ursachen von Armut müssen bekämpft werden. Nicht die Menschen, die von Armut betroffen sind.»
* Name geändert.
Ein Fehler reicht
Schwere Fälle von Sozialhilfemissbrauch wurden auch bis zum 1. Oktober strafrechtlich verfolgt. Doch musste die Straftat als Betrug qualifiziert werden. Betrug setzt eine arglistige Täuschung voraus.
Um diesen Straftatbestand zu erfüllen, musste bewusst ein Lügenkomplex errichtet werden. Diese Voraussetzung fällt beim neu geschaffenen Delikt des «unrechtmässigen Bezugs von Leistungen einer Sozialversicherung» weg. Neu machen sich BezügerInnen bereits durch das Verschweigen von Einkünften oder fehlerhaft gemachte Angaben schuldig. Mit einer Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr wird das Delikt hart bestraft.