LeserInnenbriefe: Inhumane Praxis

Nr. 6 –

«Kleine Verwahrung: Weggesperrt, bis die Therapie nichts mehr bringt», WOZ Nr. 51+52/2016 , und «‹Die Angst beeinflusst die Urteile›», WOZ Nr. 1/2017

Das Problem ist: Gefangene haben, anders als etwa Tiere, keine (grosse) Lobby. So steht in der Studie «Anordnung und Vollzug stationärer therapeutischer Massnahmen» von Jonas Weber et al.: «In der Literatur wird die in Art. 59 StGB inkraftgetretene Regelung weitgehend als problematisch eingeschätzt: Sie ermöglicht faktisch eine unbefristete stationäre therapeutische Massnahme, obwohl der Verlängerung nach der Fünfjahresfrist Ausnahmencharakter zugesprochen wird – daraus ergebe sich eine rechtsstaatlich bedenkliche Situation, wir sind der Ansicht, dass eine mehrfache Verlängerung der Voraussetzung der Erfolgsaussicht widerspreche und daher möglichst zu vermeiden sei.»

Weiter wird darin der ehemalige Oberrichter Wiprächtiger zitiert: «Die Gefahr eines zukünftigen Vergehens sei kaum mit dem Verhältnismässigkeitsprinzip zu vereinbaren.» Erstaunlich, da doch ausnahmslos alle juristischen Entscheide der Verhältnismässigkeit entsprechen müssen. Oder Brägger, der diesen Trend «Übersicherung» nennt: «Nicht die intensive therapeutische Behandlung, sondern Sicherheitsaspekte stünden im Vordergrund. Abgesehen davon werde die in einer Strafanstalt vollzogene stationäre Massnahme von den Betroffenen als Strafe (auf unbestimmte Zeit) empfunden», steht weiter in der Studie. Wie anders soll denn ein Betroffener ein unbeschränktes präventives Einsperren weit über die Strafdauer hinaus empfinden? Es ist doch offensichtlich, dass eine solch inhumane Praxis absolut dem Kerngehalt der persönlichen Freiheit entgegensteht und damit Menschenrechte beziehungsweise eben Menschen übelst verletzt.

In der Studie von Jörg Künzli et al. des Schweizerischen Kompetenzzentrums für Menschenrechte ist zu diesem Thema festgehalten: «Kerngehalt der persönlichen Freiheit ist das Verbot der Folter und der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung, das folglich absolut gilt und keine Eingriffe zulässt. Diese Garantie findet sich in Art. 10 Abs. 3 der Bundesverfassung sowie in Art. 3 EMRK.» Weiter heisst es: «Genau diese menschenrechtlichen Standards und insbesondere die Praxis des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, aber auch das Prinzip der Verhältnismässigkeit verlangen, dass sich der Verwahrungsvollzug infolge des rein präventiven Zwecks deutlich vom Strafvollzug zu unterscheiden hat! Aus diesen Vorgaben ergibt sich die Vermutung, dass Einschränkungen im Haftalltag grundsätzlich untersagt sind und sich nur rechtfertigen lassen, soweit sie zur Erreichung der eben genannten Ziele geeignet, erforderlich und zumutbar sind. Dieses Differenzierungsgebot muss auch für Staaten wie die Schweiz gelten, in welchen einzig der Entzug der Freiheit, nicht aber die Vollzugsmodalitäten Strafcharakter haben!» Abschliessend sei hier folgende Stelle der Studie erwähnt: Wenn «die Option Entlassung zu einer nur noch theoretischen und kaum mehr durch das Verhalten der Person beeinflussbaren Perspektive wird, erhöht sich das Risiko, dass die Sanktion als unmenschliche Strafe i. S. v. Art. 3 EMRK zu qualifizieren ist».

Es ist mehr als tragisch, was sich die Schweiz – die Gesellschaft in der Schweiz, also jede einzelne stimmberechtigte Person – erlaubt. Und es macht unglaublich traurig.

Romano Schäfer, stv. Präsident tumatsch.ch