The Magnetic Fields: Doch der Planet bleibt Merritt selbst

Nr. 9 –

In einem unvergleichlichen Unterfangen transferiert der Songwriter Stephin Merritt die autobiografische Form in den Pop. Und scheitert am selbstbezogenen Konzept.

Stephin Merritt: «Ich bin die am wenigsten autobiografische Person, die man sich vorstellen kann.» Foto: Marcelo Krasilcic

Stephin Merritt hat es wieder getan. Der Songwriter aus New York veröffentlicht zum zweiten Mal ein Album, das alle üblichen Masse sprengt: «50 Song Memoir», das sind fünfzig Songs auf fünf Schallplatten, ein jeder einem seiner Lebensjahre gewidmet. Berühmt wurde Merritt Ende der neunziger Jahre, als er mit seiner Band The Magnetic Fields 69 Liebeslieder einspielte. «Um sich der Welt vorzustellen», wie er damals sagte. Bis heute ist das Werk ein unvergleichlicher musikalischer Kosmos für Liebende und Leidende geblieben.

Schreiben, wie es war, scheinbar ohne ein Fitzelchen Fiktion: Dieses Ziel verfolgt der Songwriter gemäss der Ankündigung des neuen Magnetic-Fields-Albums mit seinen Memoiren. «Anders als Merritts bisherige Werke sind die Texte von ‹50 Song Memoir› nicht fiktional, sondern ein Mix aus Autobiografie und Dokumentation.» Merritt transferiert damit die Modeströmung der gegenwärtigen Literatur – das autobiografische Schreiben – in die Musik. Was im zeitgenössischen Literaturbetrieb, befeuert durch die internationalen Erfolge des norwegischen Schriftstellers Karl Ove Knausgard, als das Genre der Stunde erscheint, findet im deutschsprachigen Raum seine Entsprechung in Büchern von Thomas Glavinic, Benjamin von Stuckrad-Barre und Thomas Melle.

Die Suche nach dem Subjekt

Alles echt? Das ist doch bemerkenswert. Schliesslich verspricht der Pop seit seinen Anfängen ein Spiel mit Identitäten: das altbekannte Ich abzustreifen und in flauschige Mäntel neuer Ichs zu schlüpfen. Diese popkulturelle Grundbewegung verwenden die schlausten MusikerInnen für gewiefte Spiele: Bob Dylan, David Bowie oder in jüngster Zeit Lady Gaga.

Der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan hätte an diesen popkulturellen Identitätsspielereien seine helle Freude, beschrieb er doch mit seinem «Spiegelstadium» diese verspielte Identitätssuchbewegung als ein menschliches Grundbedürfnis. Für Lacan ist ein Neugeborenes nichts als ein hilfloses Bündel Bedürfnisse. Erst die Begegnung mit dem eigenen Bild im Spiegel offenbart uns eine Identität. Dieses ganze, allmächtige Subjekt ist eine Illusion, und wir suchen den Rest unseres Lebens danach. Es scheint, als hätte Stephin Merritt mit seinen Memoiren die Suche nach der verlorenen Ganzheit des Ichs zu einem Album gemacht.

Vom Boot in die Hütte

Zu tiefenentspannter Ukulele folgen wir Merritt in «Wonder Where I’m From» zu seiner Zeugung auf einem Hausboot auf den Virgin Islands durch barfüssige Beatniks. In «Judy Garland» schwärmt er in hippieeskem Pomp für eine Unerreichbare. In «Why I Am Not a Teenager» feiert er mit fröhlichem Synthie und schunkelnder Hammondorgel das Überleben der Pubertät. Bis ihn mit A-cappella-Gesang und reduzierter Rumpelkammerperkussion in «The Day I Finally …» die erste Existenzkrise überkommt. Merritt singt von glücklichen Momenten wie in «Me and Fred and Dave and Ted» beim Hüttenaufenthalt in einer homoerotischen Männerrunde, aber auch von betrübten, wie mit ironischem Pathos und bedeutungsschweren Pianoakkorden in «I’m Sad».

Bei der Mischung aus Autobiografie und Dokumentation integriert Merritt in seine Selbsterzählung auch gesellschaftliche Ereignisse wie Schneestürme («The Blizzard of ’78») und den ewigen Wandel seiner Heimatstadt («You Can Never Go Back to New York») sowie popkulturelle Einschnitte («Dreaming in Tetris», «Eurodisco Trio»). Es ist der Versuch, der eigenen Geschichte über sich selbst hinaus Bedeutung zu verleihen. In einem dem Album beigefügten Interview versucht der inzwischen 52-Jährige, sich so dem Vorwurf der Selbstbezogenheit zu entziehen: «Ich bin die am wenigsten autobiografische Person, die man sich vorstellen kann.» Doch der Planet, um den all diese Songmonde kreisen, bleibt Merritt selbst.

Anders als auf vorangehenden Alben singt der schwule Merritt nicht aus der Perspektive unterschiedlicher geschlechtlicher Identitäten, er schlüpft nicht in Rollen. Trotz der ausweichenden Selbstdarstellung bleibt die Perspektive immerzu autobiografisch. Über fünfzig Songs hinweg folgt man hier der vergeblichen Suche eines Künstlers nach seinem wahren Ich. Auf die Gefahr hin, alle anderen von dieser Suche auszuschliessen. So bietet Merritt anders als auf dem Album «69 Love Songs» wenig Bezugspunkte für Aussenstehende.

Der mit scheppernden Saiteninstrumenten besungene Schneesturm 1978 in New York sagt einer Europäerin genauso wenig wie Spätgeborenen das funkige Aufschäumen der Discowelle («Hustle ’76»). Kaum etwas bleibt hier im Ungefähren. Statt die Selbstbezogenheit eines autobiografischen Projekts zu sprengen, bleibt Merritt in der Vorstellung eines authentischen Künstlers verhaftet. Er verweigert sich damit nicht nur einer popkulturellen Grundbewegung, sondern schmälert für alle anderen den Zugang zu seiner gesungenen Selbstreflexion.

Doch das wäre alles nur Diskursbeilage, gäbe es auf «50 Song Memoir» einen Reigen umarmender Popsongs, wie man sie so zahlreich von Merritt kennt. Unter der Masse von Liedern finden sich aber wenige, die im Kopf bleiben: «Rock ’n’ Roll Will Ruin Your Life» ist ein antreibender und augenzwinkernder Mahnversuch an kommende Generationen, sich nicht mit dem Gitarrenteufel einzulassen. Merritt singt in seiner unverkennbaren Bassstimme ein paar fantastische Balladen («Lovers’ Lies», «Ghosts of the Marathon Dancers», «Stupid Tears»).

Grenzen einer Geste

Manchmal scheint es, als hätte sich der begnadete Songschreiber konzeptionell übernommen: Merritt spielt auf dem Album über hundert Instrumente, die Instrumentierung steht jeweils für die musikalische Epoche des betreffenden Lebensjahrs. So hört man erst akustische Gitarren, gefolgt von elektrischen bis zum düsteren Dreschen der Achtziger-Synthesizer («How to Play Synthesizer»). Im besten Fall ist das eine versteckte Kulturgeschichte der Musikinstrumente in starken Popsongs («Lovers’ Lies», «A Cat Called Dionysus») und im schlimmsten Fall anstrengende Unausgegorenheit («Eye Contact», «Danceteria!», «London By Jetpack»).

Offen bleibt, ob sich dieses Album seines schieren Umfangs wegen überhaupt in wenigen Tagen intensiven Hörens erschliessen lässt oder sich die Zugänge über Jahre hinweg ergeben. Doch eine solche Hoffnung krankt am selbstbezogenen Konzept: Denn warum sollte man Jahre des Hörens einem Projekt widmen, das einen durch seine Grundhaltung schon ausschliesst?

Merritts Scheitern zeigt die Grenzen der autobiografischen Geste auf. Auffällig ist bei den jüngsten Beispielen aus der Literatur, wie oft und mit welchem Anspruch auf Allgemeingültigkeit diese Werke von Männern mittleren Alters verfasst werden. So wird beim bekanntesten Vorreiter der gegenwärtigen Welle, bei Karl Ove Knausgard, und seinem sechsbändigen Romanprojekt «Mein Kampf» neben der Problematisierung einer empathischen, fürsorglichen Männlichkeit stets auch ein voyeuristisches Bedürfnis nach Wahrhaftigkeit bedient.

Warum hat er es getan?

Diese Gier der individualistischen Gesellschaft nach dem wahrhaftigen Einzelschicksal zeigt sich auch im Umgang mit der ebenfalls äusserst erfolgreichen italienischen Autorin Elena Ferrante. Die LeserInnen werden durch die Anonymität der Autorin mit ihren Büchern wie «Meine geniale Freundin» alleingelassen. Sie versteckt sich hinter dem Text und schützt diesen gleichzeitig. Doch die Öffentlichkeit lässt das nicht auf sich sitzen, und es werden immer neue Details zur Autorin publik. Es scheint, als gewinne das Einzelschicksal wie bei Knausgard seine Glaubwürdigkeit erst durch einen Anspruch auf vollständige Authentizität. Stephin Merritt scheint diesem auf «50 Song Memoir» ebenfalls verfallen zu sein – und zeigt gleichzeitig ungewollt die Grenzen dieser Form auf: So ist das monumentale «50 Song Memoir» in erster Linie ein Monument für Merritt selbst.

Das Festhalten an der authentischen Biografie ist im Pop, noch augenfälliger als in der Literatur, eine Limitierung. «Ich werde vermutlich hiernach keine wahrhaftigeren Songs schreiben als zuvor», meint Merritt im beigelegten Interview. Stimmt, aber warum hat er es denn getan?

«50 Song Memoir» erscheint am 10. März 2017 als 5-CD-/5-LP-Box (inklusive Reproduktionen handgeschriebener Texte) oder als gebundenes Buch mit Download-Code bei Nonesuch (Warner).

The Magnetic Fields: 50 Song Memoir. Nonesuch/Warner

Auf Tour mit Band

The Magnetic Fields sind das Vehikel für Stephin Merritts Songwriting und benannt nach einem Text der französischen Surrealisten André Breton und Philippe Soupault. Mit wechselnden MitmusikerInnen veröffentlichte die Band seit 1991 elf Alben, darunter die akustische Trilogie «i» (2004), «Distortion» (2008) und «Realism» (2010). Merritt spielte daneben in zahlreichen anderen Bands wie den Future Bible Heroes, The 6ths und The Gothic Archies.

Auf der Tour zum aktuellen Album «50 Song Memoir» wird der Leadsänger von sechs MusikerInnen ergänzt. Diese werden sowohl traditionelle Instrumente wie Cello, Charango oder Klavichord spielen als auch solche, die nicht älter als fünfzig Jahre alt sind wie Slinky-Gitarre, Swarmatron und Synthesizer. Während die US-amerikanische Tour bereits begonnen hat, sind in Europa noch keine Konzerttermine bekannt.