Franzobel: Rohe Umgangsformen
Gewalt, Sex und Körpersäfte: Mit makabrer Detailgenauigkeit rekonstruiert der österreichische Autor Franzobel in «Das Floss der Medusa» die wahre Geschichte eines dramatischen Schiffsunglücks Anfang des 19. Jahrhunderts. Die Parallelen zu den aktuellen Dramen im Mittelmeer sind nicht zu übersehen.
Zum Beispiel das Osterwochenende 2017. Schauplatz: Mittelmeer. Manövrierunfähige Schiffe. Überfüllte Holz- und Gummiboote. 8000 Gerettete. 13 Tote. Was sich an Europas Aussengrenzen ereignet und nur schlaglichtartig mediale Aufmerksamkeit erhält, ist zum Alltag einer europäischen Flüchtlingspolitik geworden, für die Menschlichkeit ein Fremdwort zu sein scheint.
«Wie bei den Konzentrationslagern, Völkermorden, Foltergefängnissen oder Tragödien um die Flüchtlingsschiffe im Mittelmeer bekam die Öffentlichkeit auch vom Unglück der Fregatte Medusa zunächst nichts mit», schreibt der österreichische Schriftsteller Franzobel in seinem Roman «Das Floss der Medusa». Er rekonstruiert in deftiger Sprache ein historisches Ereignis: das Schiffsunglück der «Medusa», die am 2. Juli 1816 nahe der westafrikanischen Küste auf Grund lief. Gute zwei Wochen zuvor hatte das Schiff die westfranzösische Hafenstadt Rochefort in Richtung des Senegal verlassen, damals eine Kolonie Frankreichs.
Das Kommando führte ein Royalist, der seine Unfähigkeit zu überspielen suchte – und zwar trotzig gegenüber den republikanischen Marineoffizieren, die vor der verhängnisvollen Arguin-Sandbank vor dem heutigen Mauretanien warnten. Eine menschengemachte Katastrophe also, so wie auch Menschen die Verantwortung für die sinkenden Boote im Mittelmeer tragen – wenn auch nicht einzelne Kapitäne, sondern eine ganze Reihe von Politikerinnen und Grenzschutzbeamten.
Auf dem «Leichenfloss»
Schon bevor die «Medusa» strandet, herrschen rohe Umgangsformen an Bord: «Der langgedehnte Schrei klang fast freudig – eine Mischung aus Orgasmus, Geburt, Tod und Schnellkochtopf.» Der da schreit, ist Schiffskoch Isaac Gaines, dessen Gesicht gerade vom Küchengehilfen Viktor Aisen in einem Racheakt auf die heisse Herdplatte gedrückt wird. Und schon nach wenigen Tagen sind zwei Tote auf der 400 Personen fassenden Fregatte zu beklagen: einer ins Wasser gestossen, einer zu Tode gepeitscht. Doch diese Toten sind erst das Vorgeplänkel eines viel grösseren Dramas – jenes um das «Floss der Medusa», das der Nachwelt im berühmten Gemälde des französischen Malers Théodore Géricault von 1819 im Gedächtnis geblieben ist.
Wer auf dem aus Schiffsmasten gefertigten Floss landet und wer in die sechs Rettungsboote darf, entscheidet sich entlang der Hierarchien auf dem Schiff. Über den «Pöbel», der dem Floss zugeteilt wird, wird quasi ein Todesurteil ausgesprochen. Als das «Leichenfloss» nach einer Woche die Küste Westafrikas erreicht, leben noch 15 von 147 Personen. Was sich unterdessen auf dem «notdürftig zusammengeflickten Vehikel» abgespielt hat, lässt sich mit Brecht pointieren: «Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.»
Dabei machen sich einige Passagiere durchaus Gedanken zu einem moralischen Umgang im Angesicht des Todes, etwa der Schiffsarzt und überzeugte Republikaner Henri Savigny: «Geschwächte ins Wasser werfen? Bedeutete das nicht das Ende aller Zivilisation?» Wenig später gibt auch er, der einen Platz auf einem der Rettungsboote ausschlug, um sich nicht zu sehr vom gemeinen Volk zu unterscheiden, und kurz zuvor noch an Zusammenhalt und Vernunft appellierte, dem Hunger nach. Und als das Tabu erst einmal gebrochen ist, gibt es nichts mehr, was den Trieben und dem Recht des Stärkeren im Weg zu stehen scheint.
Die widerlichen Szenen schildert Franzobel detailliert und fast genüsslich. Etwa die Toten, die irgendwie wegmüssen, um die Last auf dem Floss zu verringern: «Schweigend hatte man die Leichen über Bord geworfen und ihnen zugesehen – sie trieben wie Brotwürfel in der Suppe.» Das Buch evoziert makabre Bilder, die mit jenen aus den täglichen Nachrichtensendungen durchaus rivalisieren können. Identifikationsfiguren sind in diesem Buch vergeblich zu suchen, und die Faszination des Autors für Gewalt, Sex und Körpersäfte ist manchmal schwer auszuhalten. Es ist eine seltsame Mischung aus Spannung und Abscheu, die einen trotzdem weiterlesen lässt – vielleicht weil ein Umschlagen von Zivilisation in Barbarei verhandelt wird, das sich gegenwärtig vielfach wiederholt. Den Sog des Romans bremsen bloss gelegentlich der besserwisserische Ton des Erzählers und ein Hang zu langatmigen Beschreibungen und Dialogen.
Unbequeme Wahrheit
Die Geschichte des Schiffs und seiner Darstellung durch Géricault ist mehrfach literarisch behandelt worden, etwa von Peter Weiss in «Die Ästhetik des Widerstands» (1975/1978), von Julian Barnes (1989) und von Günter Seuren (2004). Franzobel holt das Floss der «Medusa» in die Gegenwart. Wie auch der Sprayer Banksy, dem das Motiv als Vorlage für Stencils zum Flüchtlingsdrama dient, setzt Franzobels Roman ein Fanal für das aktuelle Grauen im Mittelmeer. Die Hierarchie auf der «Medusa» ist mit der gegenwärtigen globalen Ordnung vergleichbar: Wenige Menschen entscheiden darüber, wer in die Rettungsboote darf und wer zu den Verdammten auf dem Floss gehört – oft eine Entscheidung über Leben und Tod. Auch deshalb ist es ein schwer zu ertragendes Buch: Ständig schwingt eine unbequeme Wahrheit mit, die wir gerne verdrängen.
Der Autor liest in Solothurn am Fr, 26. Mai 2017, um 16.30 Uhr und 20 Uhr, am Sa, 27. Mai 2017, um 14 Uhr und am So, 28. Mai 2017, um 11 Uhr.
Franzobel: Das Floss der Medusa. Roman. Paul Zsolnay Verlag. Wien 2017. 592 Seiten. 38 Franken