Auf allen Kanälen: Die andere Überraschung
Das Strassenmagazin «Surprise» trotzt der Medienkrise – obwohl es keinen Konzern im Rücken hat. Jetzt feiert es die 400. Ausgabe.
In den letzten Wochen wusste man sich in der Schweizer Medienlandschaft ja kaum zu beruhigen ob des monetären Wunders, das sich da ereignet hatte: Über drei Millionen Franken investierten Menschen gemeinsam in ein Projekt, das seriösen Journalismus verspricht – ohne dass bisher ein einziger Artikel erschienen ist.
Daneben ging ein anderes Wunder fast ein bisschen unter. Ebenfalls unterstützt durch eine zahlungsbereite Öffentlichkeit geben engagierte ZeitungsmacherInnen seit achtzehn Jahren das Strassenmagazin «Surprise» heraus. Am 19. Mai erschien die 400. Ausgabe – zum Jubiläum in neuem Layout – und wurde auf vielerlei Art gefeiert. In Kooperation mit «Blick» und SBB schenkte man sich und den LeserInnen eine Gratisausgabe in Grossauflage, und in Basel und Zürich fanden Vernissagen mit Lesungen, Apéro und vielen gut gelaunten Gästen statt.
Dieser Job braucht Mut
Eine unrepräsentative Umfrage in meinem Bekanntenkreis ergab, dass alle das «Surprise» kennen – was sich vor allem seiner ungewöhnlichen Vertriebsweise verdankt: Verkauft wird das Magazin von IndividualistInnen mit dennoch unverwechselbarer Corporate Identity, dem «Surprise»-Logo auf Kleidung oder Tasche. Dahinter steht der nicht gewinnorientierte Verein Surprise mit seinem einzigartigen Geschäftsmodell. «Jede erwachsene Person mit Wohnsitz in der Schweiz, die in prekären sozialen und finanziellen Verhältnissen lebt, kann Verkäuferin oder Verkäufer werden», heisst es auf der Website. Wer erwerbslos ist, Sozialhilfe oder eine IV-Rente bezieht, kann sich so zusätzlich einen eigenen Verdienst erwirtschaften.
Die «Surprise»-VerkäuferInnen bezahlen dem Verein 3.30 Franken pro Heft, inklusive eines AHV-Beitrags von 30 Rappen. Im Gegenzug dürfen sie jedes Heft für 6 Franken weiterverkaufen. Alle erhalten einen persönlichen Verkaufspass mit Foto, um die Bewilligung der Verkaufsplätze kümmert sich der Verein. Das ist die formale Seite der Vereinbarung.
Die menschliche Seite ist komplizierter, denn die Tätigkeit erfordert den Kontakt zu fremden Menschen. Wer sein Geld auf andere Art verdient, muss sich nur mal kurz vor Augen führen, was es heisst, stundenlang an einem öffentlichen Ort zu stehen und PassantInnen etwas feilzubieten, damit der Lohn reinkommt. Dass es dazu «Mut, Durchhaltevermögen und Sozialkompetenz» braucht, leuchtet ein.
Meine kleine Umfrage ergab übrigens auch, dass zwar alle Befragten das Strassenmagazin kennen, es aber niemand regelmässig kauft und liest – auch ich nicht. Dieser Widerspruch beschäftigte mich. Auf surprise.ngo stiess ich im sorgfältig geführten Archiv, das bis ins Jahr 2011 zurückreicht, auf eine enorm breite Palette an Themen aus Kultur, Wirtschaft und Politik. Auch persönliche Standpunkte sind vertreten und animieren zum Lesen und Nachdenken. In der Redaktion arbeiten fünf JournalistInnen, externe AutorInnen schreiben regelmässig oder sporadisch Beiträge.
Aber «Surprise» ist viel mehr als eine Zeitung. In verschiedenen Städten sind Teams für Beratung, Vertrieb und Organisation zuständig. In Basel und Zürich führen zurzeit zehn «Surprise»-Verkäufer «Soziale Stadtrundgänge» durch: Wer sich anschliesst, lernt Orte kennen, die nicht nur von der Tourismusindustrie, sondern auch von Einheimischen ignoriert werden – wie etwa Notschlafstellen. Wer wenig Geld hat, kann Körper und Seele beim Strassenfussball, im Strassenchor und mit einer solidarischen Tasse «Café Surprise» stärken.
Kampfschaf mit Baseballschläger
Bei der Vorbereitung zu diesem Text stand ich plötzlich vor der Frage, warum ich mich eigentlich nicht alle vierzehn Tage auf das neue «Surprise» stürze. Bisher habe ich nur ab und zu ein Heft gekauft, etwa die Nummer 368, die sich im Februar 2016 unter dem Titel «Die Schafmacher» mit dem Thema «Durchsetzungsinitiative und Sozialstaat» befasste: Vom Titelbild glotzte mich finster ein Kampfschaf mit Stirnband und Baseballschläger an – das musste ich haben!
Mir wurde bewusst, dass ich ein Vorurteil pflege. Bis anhin bin ich davon ausgegangen, dass das «Surprise» – früher «Surprise Arbeitslosenzeitung» – keine Zeitung für mich ist. Jetzt weiss ich: Das war ein Irrtum.