Linker Journalismus – was bedeutet das heute? Die JournalistInnen der Lokalzeitung «Schaffhauser AZ», des autonomen Onlinemagazins «Ajour» und des Strassenmagazins «Surprise» haben sehr unterschiedliche Antworten auf die Frage nach ihrem politischen Selbstverständnis.
«Es gibt mehrere Gründe, warum wir die letzte überlebende Arbeiterzeitung der Schweiz sind – der wichtigste davon ist ein interner Transformationsprozess, der dazu führte, dass wir gar keine Arbeiterzeitung mehr sind», sagt Marlon Rusch. Es sei auch gar nicht sein Ziel, eine linke Zeitung zu machen, fügt er an, sondern eine gute.
Marlon Rusch und Mattias Greuter sitzen auf Klappstühlen in einer schattigen Ecke der Schaffhauser Altstadt, etwas abseits des Rummels und mit Blick auf die Redaktion der «Schaffhauser AZ», jenes Blattes, das viele nur «AZ» nennen und das bis heute den Zusatz im Namen trägt: «Gegründet als Arbeiterzeitung». Rusch und Greuter stellen bei der «AZ» die Koredaktionsleitung.
Zwar bediene man immer noch eine linke Perspektive, sagt Greuter. Aber früher habe man sich eben auch damit zufriedengegeben, über dieselben Ereignisse, über die auch andere Medien berichteten, mit einem SP-Blick zu schreiben. Früher, das war, als noch viele Parteimitglieder auf der Redaktion arbeiteten. Heute konzentriere man sich auf eigene Recherchen und Hintergrundberichte statt auf die Agenda der SP.
Die letzte ArbeiterInnenzeitung
Einige Dutzend Medien in der Schweiz haben ein linkes Selbstverständnis. Andere, wie die «Schaffhauser AZ», eine linke Vergangenheit und linke JournalistInnen, die sich wie Marlon Rusch gegen die Zuschreibung, ein linkes Medium zu machen, fast ein wenig wehren. Das ist verständlich, wohnt der eindeutigen politischen Verortung doch auch immer etwas Unsauberes bei, ein Hauch von Abhängigkeit und Instrumentalisierung, bisweilen gar von Dogma.
Doch was macht heute aus, dass ein Medium als links gelten kann? Muss linker Journalismus die Machtfrage stellen? Wem darf und muss er verpflichtet sein – Bewegungen, Parteien oder keinen von beiden?
Bei der «AZ» will man von Abhängigkeit und Ideologien nichts wissen. Dabei ist sie die letzte überlebende ArbeiterInnenzeitung der Schweiz. 1918, knapp zwei Wochen, nachdem der Generalstreik erfolglos zu Ende gegangen war, erschien das gedruckte Lokalblatt zum ersten Mal. In der Folge durchlief die «AZ» unterschiedliche Etappen, von der SP-Zeitung zur Zeitung der Kommunistischen Partei, zurück zu einer SP-Zeitung bis hin zur heutigen Unabhängigkeit im Eigenverlag. Eine gewisse Anspruchshaltung der SP sei teilweise immer noch zu spüren, erzählt Rusch. Nur eine Tür neben dem Eingang zur Redaktion liegt das Sekretariat der Kantonalpartei. Man kenne sich, die Verbindungen existierten fort, und die Sympathien müsse man ja nicht wegdiskutieren.
Gab es Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts in der Schweiz noch zahlreiche lokale und kantonale ArbeiterInnenzeitungen, gingen alle bis auf die «Schaffhauser AZ» spätestens Anfang der 1990er entweder ein oder in grösseren Medien unter: 1985 erschien die letzte «Thurgauer AZ», 1992 waren auch die Tage der «Basler AZ» gezählt. Und vor fünf Jahren war es auch nicht klar, ob es die «Schaffhauser AZ» noch lange geben würde. Heute hat sich die Lage wieder entspannt, aufgrund der inhaltlichen Transformation und auch eines lukrativen 100-Jahr-Jubiläums 2018. Die Abonnements allein decken den Aufwand zwar nicht, doch mit jeder Nummer würden zwei, drei neue AbonnentInnen dazukommen.
«Ich glaube, linker Journalismus drückt sich darin aus, ob ein Medium auch Themen aufgreift, die bei anderen ein blinder Fleck sind», sagt Marlon Rusch schliesslich. Dennoch sei nicht die linke StammleserInnenschaft für den Zuwachs verantwortlich, sondern die Tatsache, dass die Zeitung relevante Geschichten bringe und vertieft recherchiere, eben guten Journalismus mache.
Bewegungsnah und gegen den Strom
Parteien, egal ob SVP oder SP, interessieren drei JournalistInnen vom Onlinemagazin «Ajour» nur, um sie «zu dissen». Julian Freitag lacht. Der junge Mann heisst eigentlich anders. Genauso wie der ihm gegenübersitzende Klaus Klamm und die junge Frau mit dem Pseudonym Erika Schibler. Die drei sitzen um einen Holztisch in einem schattigen Innenhof im Zürcher Kreis 4. In dem Gebäude nebenan trifft sich die zehnköpfige Redaktion einmal im Monat zur Redaktionssitzung. Freitag sagt: «Wir haben schon auch über parlamentarische Themen geschrieben, aber dann eher mit dem Fokus darauf, was diese für die Bewegung bedeuten.» Das 2017 gegründete «Ajour», der Name steht für «autonomen Journalismus», kommt aus der anarchistischen und kommunistischen Bewegung, es ist staatskritisch, antikapitalistisch und feministisch ausgerichtet.
Bewegungsnahe Medien wie das «Ajour» gibt es in der Schweiz nur wenige, so etwa das «Megafon», das Magazin der Reitschule Bern, oder das Infoportal «Barrikade.info» und die Westschweizer Version «Renversé». Während auf den beiden letztgenannten jeder und jede mit kontrolliertem Login anonym Informationen zu politischen Mobilisierungen, internen Debatten oder Outings von Neonazis posten kann, berichten beim Berner «Megafon» in einer einmal im Monat erscheinenden Printausgabe AktivistInnen meist unter ihren echten Namen. Beim «Ajour» hingegen halten die RedaktorInnen ihre Identität bewusst zurück. Schliesslich, so erzählt Freitag, müsse beim Googeln nicht jeder Text gefunden werden, den man irgendwo mal als Praktikantin veröffentlicht habe. Und man wolle sich selber schützen, etwa wenn über Aktionen berichtet werde, die strafrechtliche Relevanz haben könnten.
Medien wie das «Ajour» verpflichten sich der ausserparlamentarischen Linken und der Bewegung. Doch stehen sie damit nicht genauso im Vorwurf der Parteilichkeit wie bürgerliche Medien?
Klamm differenziert: «Den Begriff der journalistischen Objektivität finde ich komisch. Man kann nicht objektiv über politische Themen berichten. Wir bilden mit bestem Wissen und Gewissen das ab, was wir glauben, erkannt zu haben.» Linken Journalismus macht man beim «Ajour» an der Nähe zur Bewegung fest, aber auch an der Abgrenzung zu sozialdemokratisch oder parlamentarisch geprägten linken Medien. «Fundamentale Kritik an den Zuständen fehlt in bürgerlich-linken Medien genauso wie in der NZZ, sie wird höchstens als kindische Utopie akzeptiert», sagt Klamm. Was die Schreibenden bei «Ajour» machen und die Sicht auf die Dinge, die sie vertreten würden, sei jedoch gar nicht utopisch, vielmehr würden sich gewisse fundamentalere Fragen einfach aufdrängen – der Unterschied sei nur, dass das «Ajour» diese angehe, statt sie als unumkehrbar zu akzeptieren.
Von den Anwesenden hat lediglich Klamm eine journalistische Ausbildung, von der Gesamtredaktion arbeiten einige in einem «Lohnjob» als JournalistInnen, wie Schibler es nennt, andere schreiben nur, weil sie wütend sind, und legen ihre Arbeit als notwendigen Aktivismus aus. Darin sehen die Anwesenden auch die Essenz von linkem Journalismus: «Was wir machen, machen wir aus politischen Gründen. Wir machen diese Arbeit, um politische Kämpfe zu stärken, und stellen unsere journalistische Arbeit somit ein Stück weit auch in den Dienst dieser Kämpfe», sagt Freitag.
Niemand verdient am Projekt «Ajour» Geld, das Onlinemagazin hat keine Publikationszyklen. «Wir hauen etwas raus, wenn wir etwas haben. Das sind dann auch mal drei Artikel nacheinander und dann wieder drei Monate lang gar nichts», so Schibler. Diese Freiheiten seien schön, man sei nicht abhängig davon, eine reisserische Story zu bringen und etwas zu verkaufen, bei dem man nicht zu hundert Prozent dahinterstehe. Neben Artikeln veröffentlicht «Ajour» auf Instagram und Twitter regelmässig Liveticker zu politischen Events, Videos oder kurze Kommentare. Man geniesse in den tendenziell medienscheuen linksradikalen Kreisen mittlerweile ein gewisses Vertrauen und komme an Informationen, die anderen verborgen blieben. Entsprechend ist die LeserInnenschaft des «Ajour» eher jung und bewegungsnah – wie viele VertreterInnen des viel beschworenen Proletariats das Magazin lesen, wissen die drei Schreibenden nicht.
Besser niemanden verärgern
«Meine Eltern waren in der Studentenbewegung, das hat mich sicher stark geprägt», sagt Sara Winter Sayilir. Sie ist Redaktorin beim in Basel produzierten Strassenmagazin «Surprise». Das «Surprise» ist aus einem Arbeitslosenprojekt entstanden, von den Betroffenen selbst initiiert. Und im Magazin schreiben auch zahlreiche Betroffene über ihre eigene Lage. «Diese Menschen denken nicht in erster Linie politisch, aber sie schreiben über eine Gesellschaftsschicht, die besonders von Mechanismen betroffen ist, um die sich traditionell linke Politik kümmert», beschreibt Winter Sayilir die politische Ausrichtung des monatlich erscheinenden Hefts.
Strassenzeitungen wie das «Surprise» haben sich aus dem Anspruch heraus entwickelt, Journalismus für möglichst alle Bevölkerungsschichten zu machen und das Einkommen möglichst vieler Menschen durch den Verkauf zu sichern. Entsprechend ist Vorsicht geboten: «Natürlich möchte ‹Surprise› eine möglichst breite LeserInnenschaft für Armut und Ausgrenzung sensibilisieren. Und weil schliesslich Menschen mit dem Heft auf der Strasse stehen und damit assoziiert werden, formulieren wir unsere Titel mit Rücksicht darauf auch mal weniger angriffig, als man das vielleicht für den Kioskverkauf tun würde», erklärt Winter Sayilir. In den letzten Monaten sei es ein paarmal passiert, dass Menschen im bürgerlichen Lager sich von einem «Surprise»-Cover angegriffen gefühlt hätten, das gelte es eigentlich zu vermeiden.
Das «Surprise» finanziert sich über den Heftverkauf; da die sozialen Aktivitäten des gleichnamigen Trägervereins ebenfalls gedeckt werden müssen, werden auch einige Inserate geschaltet. «Inhaltliche Einmischung in die redaktionelle Arbeit gibt es aber nicht», so Winter Sayilir. Sponsored Content mache man aus Prinzip nicht. Das sei auch nicht nötig, denn dem Strassenmagazin gehe es finanziell gut. «Unser Erfolg hängt von vielen Faktoren ab, die teilweise ausserhalb unseres Einflussbereichs liegen – etwa dem Wetter und ganz deutlich davon, wie viele Menschen auf der Strasse stehen und unser Heft verkaufen. Der wohl häufigste Grund, unser Heft zu kaufen, ist das Schicksal des Menschen, der da vor einem steht.»
Rund 450 Verkaufende, aber auch ChorsängerInnen, FussballerInnen und StadtführerInnen gehören zu den Menschen, die den Verein «Surprise» ausmachen. Genauso politisch durchmischt wie die LeserInnenschaft sind auch die VerkäuferInnen. Winter Sayilir sagt, darunter seien teilweise auch religiös-konservative Menschen, genauso wie wertliberale Hippies, Geflüchtete, Menschen mit Suchterfahrungen. «All diese Personen sind sich politisch ja nicht automatisch einig, nur weil sie von denselben Schwierigkeiten betroffen sind.» Entsprechend definiert Winter Sayilir auch linken Journalismus grundsätzlicher als über die Partei- oder Gruppenzugehörigkeit: «Ich empfinde linken Journalismus als anwaltschaftlich für die weniger Privilegierten und als kritisch gegenüber Herrschaft und Machtinstitutionen. Ich wünsche mir aber einen linken Journalismus, der nicht dogmatisch ist und auch eigene blinde Flecken hinterfragt.»