Streik auf dem Lago Maggiore: Von Familienvätern zu wütenden Piraten
Nach ihrer Kündigung durch die italienische Schifffahrtsgesellschaft NLM haben die Schweizer Angestellten ihre Arbeit niedergelegt. Bis heute zeichnet sich keine Lösung im Arbeitskonflikt ab.
Wild entschlossen trotzen sie am vergangenen Samstag Gewitterregen und stürmischen Winden. Sie tragen ein Transparent vor sich her: «Ci volete disoccupati, ci avete pirati» (Wenn ihr Arbeitslose wollt, werdet ihr Piraten haben). Sie schwenken ihre Fahnen und intonieren zu lauter Rockmusik «Sciopero, sciopero» (Streik, Streik).
Die 34 Schweizer Angestellten, viele von ihnen Familienväter, die seit Jahren im Dienst der staatlichen italienischen Schifffahrtsgesellschaft NLM im Schweizer Seebecken stehen, hatten Mitte Juni aus heiterem Himmel den blauen Brief erhalten. Auf Ende des Jahres sollen ihre Jobs ohne jegliche Garantien aufgehoben werden. Wut und Enttäuschung stehen den Schiffern ins Gesicht geschrieben. Giovanni De Lisio, 45 und seit fünf Jahren bei NLM tätig, drückt es so aus: «Die Zukunft? Was weiss ich schon. Dieser Entscheid nimmt uns unsere Würde! Die meisten von uns haben Familien, was erzählen wir unseren Kindern?»
«Bleiben wir optimistisch»
Gianluca Carini, 50 und seit acht Jahren auf dem Lago Maggiore unterwegs, fällt ihm ins Wort: «Bleiben wir optimistisch. Wir müssen denen da oben einen Stoss versetzen, vielleicht nützt es etwas, wenn sie uns nicht wie Nummern behandeln können, vielleicht kommt durch unseren Streik etwas in Bewegung. Wir müssen durchhalten. Sieh dir doch all die Leute an, die uns unterstützen.»
In der Tat hat der Streik über das Locarnese hinaus eine breite Solidaritätswelle ausgelöst. Innert kurzer Zeit haben Tausende eine Petition unterschrieben, die eine Rücknahme der Entlassungen sowie eine Fortführung der Anstellungen bei gleichen Bedingungen verlangt. An der Demonstration sprachen nicht nur die Streikenden, Gewerkschafter und linke PolitikerInnen, sondern auch Vertreter der Kirche – und ganz spontan viele TouristInnen aus dem In- und Ausland.
Auf der anderen Seite steigt der Druck von betroffenen Gemeinden, VertreterInnen des Tourismus, von Hotel- und RestaurantbesitzerInnen auf die Streikenden. Allgemeiner Tenor von dieser Seite: «Ihr ruiniert uns durch euer Verhalten das Geschäft. Wir haben Hochsaison!» – Auf den Brissagoinseln wird beispielsweise ein täglicher Verlust von 3000 bis 5000 Franken moniert.
Zum grossen Ärger der Gewerkschaften und der Streikenden hat man jetzt damit begonnen, von Italien aus mit Schiffen, bedient von italienischer Besatzung, auch die Schweizer Häfen anzulaufen. Am Dienstagnachmittag paddelten DemonstrantInnen auf Luftmatratzen auf den See, um ein Boot aus Italien am Anlegen zu hindern. Die Tessiner Kantonspolizei rückte an und kontrollierte neun Personen.
Auf Befehl Berns?
NLM-Direktor Gianluca Mantegazza verteidigte sich: «Wir handeln auf Befehl aus Bern, die internationalen Verbindungen müssen gemäss Vertrag aufrechterhalten bleiben.» Das Ganze tue der NLM furchtbar leid. «Wir mussten unsere Schweizer Angestellten aus finanziellen Gründen entlassen. Wir haben nie einen Franken Subventionen aus der Schweiz an unseren Betrieb erhalten.»
Tatsächlich finanzierten bislang ausschliesslich die ItalienerInnen die Schifffahrt auf dem Lago Maggiore. Stinksauer sind die Streikenden denn auch in erster Linie auf den Tessiner Regierungsrat. Zu einem Gespräch mit einer Delegation der Kantonsregierung kam es erst nach der Arbeitsniederlegung, die von den Gewerkschaften SEV, Unia und OCST mitgetragen wird. Bis jetzt ohne Ergebnis. Regierungspräsident Manuele Bertoli (SP) konnte angeblich keine Garantien geben. Gemäss SEV-Gewerkschafter Angelo Stroppini ist die Gründung eines neuen Konsortiums zwischen SNL (Lago di Lugano) und NLM (Lago Maggiore) geplant. Das könne aber noch Monate dauern.
Die Schlacht am Lago Maggiore muss in einem grösseren Zusammenhang gesehen werden. Seit Jahren ist das Verhältnis zwischen Italien und dem Kanton Tessin trotz gegenteiliger Beteuerungen angespannt. Trotz der Tatsache, dass beispielsweise im Tessin mit über 60 000 GrenzgängerInnen ohne die Italiener das ganze Gesundheitssystem zusammenbrechen würde, hat sich Lega-Regierungsrat und SVP-Exbundesratskandidat Norman Gobbi unlängst nicht davor gescheut, Italien mit der Forderung nach Leumundszeugnissen für ausländische Arbeitskräfte zu provozieren. Und eben hat der Regierungsrat zwei Millionen vereinbarte Subventionen an die ItalienerInnen gestrichen, weil ihm eine neue Bahnführung zum Mailänder Flughafen Malpensa von der Schweiz aus nicht passt.
So kann man die Wut der Streikenden noch besser verstehen: Sie sehen sich als Opfer der politischen Ränkespiele. Die Entlassenen haben eine Heidenangst vor einer Privatisierung und fordern eine staatliche Lösung. Allgemein fühlt sich das Tessin oft eingeklemmt zwischen Deutschschweiz und Italien. Jetzt wird wieder einmal für einen eigenen Bundesrat plädiert. Aus der Mitte der Streikenden tönt das so: «Die zuständige Bundesrätin Doris Leuthard bleibt stumm, was uns betrifft. Vielleicht würde ein Tessiner Bundesrat ein Machtwort sprechen.»