Dossier Generalstreik: Globalisierter Widerstand
Für einen erfolgreichen Arbeitskampf braucht es heute eine neue Art der Mobilisierung der gesamten Basis, strategisches Denken, gute Öffentlichkeitsarbeit – und die internationale Solidarität
Als das Gewerkschaftsschiff «Global Mariner» den Hafen von Lissabon anlief, standen die Docker schon für ihre Aktion bereit. Eine Woche lang, so hatten es sich die Strategen in der Londoner Zentrale der Internationalen Föderation der Transportarbeitergewerkschaften (ITF) ausgedacht, würden Hafenarbeiter die Arbeits- und Lebensverhältnisse an Bord so genannter Billigflaggenschiffe überprüfen. Ort und Zeitpunkt der Aktion waren genau gewählt: Portugal, Mitte September, nur wenige Tage vor dem Ende der Weltausstellung. Die Organisatoren hatten also das Publikum nicht vergessen. Öffentlichkeit schaffen und international agieren – das sind heute schon fast unverzichtbare Voraussetzungen für eine erfolgreiche Gewerkschaftsaktion. Für die Öffentlichkeitsarbeit war in diesem Fall die «Global Mariner» zuständig. Das zu Jahresbeginn von der ITF erworbene und umgebaute Schiff reist seit Monaten von einem Hafen zum nächsten, um auf den nunmehr fünfzig Jahre andauernden Kampf der ITF gegen die Billigflaggen-Schifffahrt aufmerksam zu machen. Am ersten Tag in Lissabon besuchten 7000 Menschen die Informationsausstellung an Bord.
In den Docks nebenan und in den Häfen von Setubal und Leixoes stoppten derweil Arbeiter den Umschlag von Waren. Auf manchen Frachtern, die sich die Docker genauer angesehen hatten, gab es weder Notvorräte noch Löschschläuche oder Alarmglocken, auf anderen hatten die Seeleute seit Tagen nicht gegessen und monatelang keine Heuer erhalten. Auch die ausbezahlten Löhne waren erbärmlich: zwischen 300 und 500 Dollar im Monat. Die Crew der «Global Mariner» hatte das Nötigste mitgebracht: Obst, Milch, Gemüse, Fruchtsaft, Bettdecken und Waschpulver. Gleichzeitig überreichte ein ITF-Inspektor den Kapitänen eine Liste mit Forderungen: Auszahlung der ausstehenden Heuer; Heimreise für jene Crew-Mitglieder, die dies wünschen; Unterzeichnung eines ITF-Abkommens über Mindestlöhne (1200 Dollar) und minimale Arbeitsbedingungen. Die Forderungen wurden in allen Fällen sofort erfüllt: Blockaden dieser Art treffen die Reeder empfindlich – die Hafengebühren sind hoch, Konventionalstrafen für Verspätungen beachtlich.
So erfolgreich verlaufen die Aktionswochen der ITF (es gibt mehrere pro Jahr) eigentlich immer. Denn immer finden sie Schiffe, auf denen entwürdigende Zustände herrschen. Und es gelingt den Gewerkschaftern auch immer, ihre Mindeststandards durchzusetzen – diese kommen die Reeder billiger als lange Auseinandersetzungen. Und doch reissen die Misshandlungen auf den «ausgeflaggten» Schiffen nicht ab. Auf diesen Schiffen gelten nicht mehr die Sicherheitsbestimmungen, die Arbeitsgesetze oder die Tarifverträge jener Länder, in denen die Reederei ansässig ist, sondern die Bedingungen der Staaten, in denen das Schiff registriert wurde und deren Flagge es trägt: Panama, Liberia, Zypern oder etwa Antigua. Das Ausflaggen begann in den zwanziger Jahren; damals war es noch ein Schritt besonders habgieriger Schifffahrtsunternehmen, heute hingegen ist es für viele Reeder (angesichts der Konkurrenz) zur Notwendigkeit geworden.
Schweden: Jede Woche ein Schiff
Im Laufe der letzten Jahrzehnte hat somit ein bedeutender Zweig der Weltwirtschaft, der Überseetransport, eine grundlegende Deregulierung durchlaufen. Mit den bekannten Folgen: Hungernde Seeleute auf unsicheren Kähnen, die beim ersten Widerspruch irgendwo an Land gesetzt werden und die wissen, dass in ihren Heimatländern tausende bereit stehen. Die Schifffahrt ist der erste völlig globalisierte Industriezweig.
Gegen solche Zustände gibt es nur ein Mittel: die Solidarität. In hundert Häfen arbeiten ITF-Inspektoren, welche die Billigflaggenschiffe kontrollieren und im Bedarfsfall mit Unterstützung der Hafenarbeiter so lange festhalten, bis die Reeder die Einhaltung von Mindeststandards zusichern. Die ITF ist damit der wichtigste Regulator in einer weitgehend deregulierten Branche. Regulatoren sind Leute wie Malte Segerdahl vom schwedischen Transportarbeiterverband. «Wir bestreiken durchschnittlich ein Schiff pro Woche», sagt er. Skandinavien (ganz besonders Finnland) ist daher eine gefährliche Gegend für die Billigschiffer. Auch die nordamerikanische Westküste und Australien gilt es zu meiden. In Australien erkämpfen Hafenarbeiter den Crews auf Billigfrachtern pro Jahr über zwei Millionen Dollar an ausstehenden Löhnen.
Der Erfolg solcher Aktionen ist auch der neuen Führung der ITF zuzuschreiben, die frühzeitig begriffen hat, welche Rolle im Zeitalter der transnationalen Konzerne den internationalen Gewerkschaftssekretariaten zukommt. Diese Sekretariate sind Zusammenschlüsse von Industriegewerkschaften einer Branche; der ITF zum Beispiel gehören fünfhundert Gewerkschaften aus dem Transportbereich an. Zu Zeiten des Kalten Krieges waren diese Sekretariate im Wesentlichen nur Unterorganisationen des Internationalen Bundes Freier Gewerkschaften, der seine Hauptaufgabe im Kampf gegen den Kommunismus sah.
Heute sind sie die Schaltstellen für internationale Solidarität und Zusammenarbeit. An die Stelle der konservativen, sozialpartnerschaftlich ausgerichteten und antikommunistischen Funktionäre sind in den letzten Jahren internationalistisch orientierte GewerkschafterInnen getreten (dies gilt zumindest für die ITF, den Bund der Chemie-, Energie- und Bergarbeitergewerkschaften ICEM und die Internationale Angstelltenorganisation FIET). Die ITF zum Beispiel hat in den letzten fünf Jahren ein gut Teil ihrer Mittel in die internationale Vernetzung gesteckt. Sie hat heute doppelt so viele Inspektoren in den Häfen wie 1992 (und konnte seither auch die Zahl der Billigflaggenschiffe mit einem ITF-Tarifvertrag auf 5000 verdoppeln), sie verlegte den Schwerpunkt ihrer Organisierungsbemühungen in die Entwicklungsländer, sie sucht aktiv die Zusammenarbeit mit wissenschaftlichen Einrichtungen, sie hat in den letzten Jahren eine Reihe universitärer Fachbereiche mitgegründet und investierte in die neuen Möglichkeiten globaler Kommunikation. ITF-Inspektoren können demnächst alle verfügbaren Daten über alle irgendwo erfassten Billigflaggenschiffe via Internet abrufen. Die ITF-Site gehört zu den besten Websites überhaupt. Kurzum: Wer meint, die Gewerkschaftsbewegung hätte sich nicht bewegt und die Internationalisierung verschlafen, findet hier ein Gegenbeispiel.
Wenn derzeit Erfolge zu verbuchen sind, dann im Transportbereich: Wenn LastwagenfahrerInnen, Hafenarbeiter, Flughafenangestellte, Eisenbahner und Seeleute in Zeiten der «Just-in-time»-Logistik streiken, dann geht unter Umständen gar nichts mehr. Das haben die französischen Camonnieure zuletzt 1997 demonstriert. Aber es ist nicht nur die strategisch günstige Position, die die Stärke der TransportarbeiterInnen ausmacht. Auf Grund der internationalen Kontakte hat es im Transportbereich immer wieder grosse solidarische Bewegungen gegeben – besonders bei den Dockern. Die australischen Hafenarbeiter etwa boykottierten schon holländische Schiffe, als die indonesische Bevölkerung um Unabhängigkeit kämpfte, und blockierten später indonesische Frachter, als dort GewerkschafterInnen eingesperrt wurden. Die Liverpooler Docker bestreikten jede Fracht für das Pinochet-Regime und liessen Waren für das südafrikanische Apartheid-Regime verrotten.
Australien: Dreimal abgewehrt
Diese Solidarität haben viele nicht vergessen, als die Liverpooler Docker von ihrer gerade privatisierten Hafenfirma entlassen wurden, weil sie die Einführung des Tagelohns nicht hinnehmen wollten. Ihr Kampf um ihre Arbeitsplätze fand weltweit Beachtung. Zweimal kam es während ihres zwei Jahre dauernden Kampfes zu Solidaritätsstreiks in über hundert Häfen in dreissig Ländern – es waren die wohl grössten internationalen Arbeitsniederlegungen der letzten Jahrzehnte. Dass sie dennoch scheiterten, lag an ihrer eigenen Gewerkschaft, die sich gegen sie wandte; da waren auch der ITF die Hände gebunden.
Im Fall der australischen Docker klappte das schon besser. Den ersten Test bestanden die ITF-Mitglieder im September letzten Jahres. Damals feuerte eine Verladefirma in Cairns die gesamte Belegschaft und stellte gewerkschaftlich nicht organisierte Arbeiter ein. Daraufhin weigerten sich die von der ITF alarmierten Mannschaften zweier Schiffe, ihre Fahrt mit Kurs auf Cairns fortzusetzen: Die Docker wurden wieder eingestellt.
Deutlich kühner noch war dann das Vorhaben im Dezember, als ein Unternehmen mit Billigung der australischen Regierung aktive und ausgemusterte Soldaten nach Dubai fliegen liess, um sie dort zu Hafenarbeitern ausbilden zu lassen. Das Projekt, industrielle Söldner für den Streikbruch vorzubereiten, traf auf Empörung: Docker, Seeleute, Flughafenbeschäftigte und Piloten liessen Dubai wissen, dass sie das Emirat von der Aussenwelt abschneiden würden, wenn die Australier nicht sofort abgeschoben würden. Dubai reagierte sofort.
Der dritte Test kam im Frühjahr – die Hafenfirma Patrick, die rund die Hälfte des australischen Gesamtumschlags abwickelt, entliess ihre Belegschaft in Sydney. Im Eifer des Gefechts hatte das Unternehmen freilich einige Gesetze übersehen – Patrick verlor nicht nur den darauf folgenden Rechtsstreit, sondern auch Kundschaft: Kein Hafenarbeiter an der gesamten nordamerikanischen Westküste zum Beispiel wollte ein Schiff anfassen, das in Australien von unorganisierten Arbeitern beladen worden war.
Südkorea: Vom Angriff in die Defensive
Die Aktionsmöglichkeiten von Dockern und Seeleuten sind mit den Kampfbedingungen in anderen Branchen kaum zu vergleichen. Die südkoreanischen IndustriearbeiterInnen zum Beispiel haben es viel schwerer. Sie wehren sich erbittert gegen Unternehmen, welche die Wirtschaftskrise nutzen, um den gerade erst aufgebauten, konfliktfreudigen Koreanischen Gewerkschaftsbund (KCTU) zu zerschlagen. Aber ihre grossen Streiks, mit denen sie in den letzten Jahren ihre Lebensumstände verbesserten, bewirken heute nichts mehr.
Die Auseinandersetzungen in Südkorea waren typisch für Arbeitskonflikte in Industrialisierungsphasen: Die Beschäftigten verlangen bessere Bedingungen und höhere Löhne, verlassen die alten unternehmerfreundlichen Organisationen, gründen ihre eigenen Gewerkschaften und verbinden ihren Kampf für erträgliche Verhältnisse mit dem Kampf um politische Rechte. In Südkorea hatte die industrielle Umwälzung jedoch ein atemberaubendes Tempo angeschlagen – hierzulande mussten hundertfünfzig Jahre zwischen der ersten und der dritten industriellen Revolution vergehen. In Südkorea kamen die verschiedenen Technologieschübe (und auch noch eine Weltwirtschaftskrise) innerhalb weniger Jahre. So stehen die Beschäftigten, die sich letztes Jahr noch in der Offensive wähnten, mittlerweile in Abwehrkämpfen.
Die koreanischen ArbeiterInnen sind also dort angekommen, wo die Belegschaften Europas schon länger stehen: in der Defensive. Was das bedeutet, zeigt das traurige Schicksal der britischen Gewerkschaften. Die De-Industrialisierung grosser Regionen durch die monetaristische Politik der Thatcher-Regierung und die Umstrukturierung ganzer Branchen haben die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder in den letzten zwanzig Jahren glatt halbiert. Die Zahl der Streiktage ist gar gegen null gesunken. Das liegt auch an der völligen Rechtlosigkeit der Trade Unions, die erst nach einem mühsamen und langwierigen Verfahren einen Streik ausrufen dürfen, dennoch aber nicht geschützt sind. Die grossen Streiks wie die Arbeitsniederlegungen der Bergarbeiter, der Drucker und der Docker in den achtziger Jahren gehören auch aufgrund der ökonomischen Umstrukturierungen der Vergangenheit an.
Auch in Deutschland scheinen in die Zeiten vorbei, da eine Umverteilung von oben nach unten durchgesetzt werden konnte (die Reallöhne sind in den letzten Jahren deutlich gesunken). Vorbei scheinen auch die Zeiten, in denen eine IG Metall (und eine IG Druck) in langen Auseinandersetzungen die Verkürzung der wöchentlichen Arbeitszeit erreichte. Dabei ist die Industrie – trotz aller Standortdebatten – international überaus wettbewerbsfähig. Kein anderes Land exportiert im Verhältnis zu seiner Grösse so viele Waren wie die Bundesrepublik. Dass die Zahl der Streiks abgenommen hat, liegt vor allem an jenen Gewerkschaftsführungen, die an die Stelle der alten Konsenspolitik (Aufrechterhaltung der Ordnung durch Zugeständnisse in den Tarifverhandlungen) eine neue Standortpartnerschaft setzten: Aus dieser Partnerschaft heraus akzeptieren sie die Absenkung von Standards, die Aushöhlung von Tarifverträgen und die Ausweitung der Flexibilisierung, weil sie sich dadurch Konkurrenzvorteile für die deutsche Industrie versprechen, welche dann auch irgendwie den Lohnabhängigen zugute kommen, wie sie hoffen. Es gebe keine Alternativen mehr zur kapitalistischen Ordnung, «sondern nur noch Gestaltungsalternativen im Kapitalismus» – davon ist zum Beispiel der Gewerkschafter und neue deutsche Arbeitsminister Walter Riester überzeugt. Liegt die Gestaltungsalternative aber in der kampflosen Hinnahme einer Verschlechterung der Arbeitsbedingungen? Zumindest ein Teil der deutschen Lohnabhängigen sieht das nicht so. Das zeigten die ebenso spontanen wie massenhaften Arbeitsniederlegungen vor zwei Jahren, als schwerreiche Grossunternehmen wie Daimler-Benz einen Regierungsvorstoss aufgriffen und die Lohnfortzahlung bei Krankheit reduzieren wollten. Spontan war etwa auch jener Streik Anfang Oktober bei Opel in Bochum, als 1800 BandarbeiterInnen zum Direktionsgebäude marschierten, gegen Personalknappheit und Arbeitshetze protestierten und sofortige Neueinstellungen verlangten – Ergebnis: Die Bandgeschwindigkeit wurde reduziert, das Werk stellt fünfzig neue Arbeitskräfte ein.
Südafrika: Doppelte Verteidigung
Das Gespenst der Globalisierung und die grosse Furcht vor den Folgen der neuen Freiheit des Kapitals, das sich ungehindert zwischen Ländern und Kontinenten bewegen und sich die besten Verwertungsbedingungen aussuchen kann, hat den Gewerkschaften vielerorts den Blick verstellt. Manche vergessen, was eigentlich die Grundfunktion einer Gewerkschaft ist – nämlich die Aufhebung der Konkurrenz unter denen, die ihre Arbeitskraft verkaufen müssen. Dazu dürfen aber die Funktionäre eine Lösung ihrer Probleme nicht im nationalen Heil suchen. Das verzeifelte Festhalten an einer Partnerschaft mit nationaler Regierung und Kapital blockiert auch oft die Wahrnehmung. Dabei könnte man viel lernen – etwa von den GewerkschafterInnen in Südafrika.
In Britannien, in Deutschland und in den meisten anderen europäischen Ländern haben beinahe alle Kämpfe gegen die Privatisierung öffentlicher Firmen und Aufgaben in einer Niederlage geendet. Dies auch deswegen, weil die Linke a priori jede Kritik an den öffentlichen Leistungen als konservativen Angriff abtaten. Dabei waren und sind Staatsbürokratien nicht per se für die Befriedigung der Bedürfnisse der kleinen Leute erfunden worden. Das ist in Südafrika nicht anders. Dort ist es den Menschen in den Townships ziemlich egal, ob Privatunternehmen wie British Biwater und Générale des Eaux oder die eigenen Stadtwerke das Wasser liefern, solange ihr Trinkwasser rationiert ist oder durch defekte Leitungen versickert. Gegen die geplante Privatisierung der Wasserwerke und der Müllabfuhr werden die südafrikanischen Gewerkschaften also wenig ausrichten können – solange die öffentlichen Dienste so bleiben, wie sie sind. Die AktivistInnen wissen, dass öffentliche Leistungen nur zu verteidigen sind, wenn die Öffentlichkeit sie darin unterstützt. Das tun die Menschen aber nur, wenn der Service public ihnen zugute kommt.
Die südafrikanische Gewerkschaft der Städtisch Bediensteten (SAMWU) hat eine breite Kampagne entfacht, die beides vorsieht: Widerstand gegen die Privatisierung und eine Einbeziehung der Bevölkerung bei der Verbesserung der Dienstleistungen. «Wir müssen die Bedürfnisse der Bevölkerung ernst nehmen», sagt Maria Cheryl van Driel, die die Anti-Privatisierungskampagne der SAMWU koordiniert. «Das heisst auch: hinausgehen und die Probleme in den Townships lösen.» Den Mitgliedern, die ihren Trott gewohnt sind, falle das manchmal schwer, sagt sie. Aber ohne die Einbeziehung der Öffentlichkeit sei dieser politische Kampf nicht zu gewinnen.
USA I: Teilzeit-Amerika funktioniert nicht
In ganz starkem Masse auf die Öffentlichkeit setzen auch die US-amerikanischen Gewerkschaften. Sie agieren in einem ausserordentlich unvorteilhaften Umfeld (hohe Arbeitslosigkeit, Gewerkschaftsfeindlichkeit in beiden grossen Parteien, wachsende Armut, Zunahme der prekären Arbeitsverhältnisse, geringer Organisationsgrad usw.), und doch haben die Unions unter ihren neuen, konfliktbereiten Führungen in letzter Zeit einige grosse Kämpfe gewinnen können.
Am stärksten vollzog sich dieser Wechsel in der Internationalen Brotherhood of Teamsters, die insgesamt eineinhalb Millionen LebensmittelarbeiterInnen, Lagerpersonal, LKW-FahrerInnen, Bäckerinnen, Bierbrauer und öffentlich Bedienstete organisiert. Die neue, 1991 gewählte Führung verfolgte eine völlig andere Politik als der frühere Vorstand. Sie demokratisierte die Organisation und begann, die Mitgliederschaft in die Entscheidungen miteinzubeziehen. Die Ermächtigung der Basis war die Grundlage für die erfolgreichen Kämpfe der Teamsters – insbesondere auch des UPS-Streiks im letzten Jahr, der wohl grössten Arbeitsniederlegung in den USA seit dem Ausstand der Stahlarbeiter 1959.
Den UPS-Streik, sagt Andy Banks vom Büro für strategische Kampagnen beim Teamsters-Vorstand, habe niemand erwartet, auch die Gewerkschaft nicht. «Wir dachten, es reicht, wenn wir der Konzernleitung signalisieren, dass wir auf den Kampf vorbereitet sind. Aber die Manager waren so gewöhnt an die totale Apathie unserer Leute – in fünfzig Jahren hatte es bei UPS keinen Konflikt gegeben.» Was die Manager nicht wussten: Die Gewerkschaftsspitze hatte zum ersten Mal die Basis befragt. Zuerst Versammlungen mit den fünftausend gewerkschaftlichen Vertrauensleuten, die berichteten, was die 185 000 UPS-ArbeiterInnen denken; dann eine schriftliche Umfrage über die grössten Probleme, die 40 000 Mitglieder freudig beantworteten. Heraus kam ein Forderungskatalog. Ganz oben stand die Forderung nach Vollzeitstellen (125 000 der UPS-Beschäftigten waren 1997 TeilzeitarbeiterInnen), daneben forderten die Mitglieder höhere Pensionen, bessere Sicherheitsvorkehrungen und ein Ende der Ausgliederung von Betriebsteilen.
«Es war klar – die Leute haben die Nase voll vom amerikanischen Modell, bei dem viele Arbeiter zwei oder drei Jobs haben müssen, um über die Runden zu kommen», sagt Banks. Die Parole («Part-time America doesn’t work») überzeugte in der Öffentlichkeit. Banks und seine KollegInnen in der Strategie-Abteilung hatten wenig Mühe, SympathisantInnen zu finden: progressive Christen, Bürgerrechtsgruppen, Immigrantenvereinigungen, HochschulprofessorInnen. Die Bündnisse und die gemeinsam veranstalteten öffentlichen Anhörungen waren so wichtig wie die langsame Eskalation. «Zuerst hatten wir einmal im Monat eine Grossdemonstration zu jeweils einem Thema: Vollzeit-Jobs, Outsourcing, Sicherheit am Arbeitsplatz», erinnert sich Banks. Am Tag vor dem ersten Gespräch gab es aber Kundgebungen vor den sieben grössten Verteilzentren im Land. Zwei Wochen später wurde vor 14 Zentren demonstriert, drei Wochen danach vor dreissig, am Schluss vor hunderten. Zwischendurch hat die Gewerkschaft innerhalb einer Woche fünftausend Beschwerden von UPS-Mitgliedern wegen Verstosses gegen die Sicherheitsvorkehrungen eingereicht. Schon vor Beginn des Ausstands hatte UPS die Propagandaschlacht verloren. «Der Streik war danach das Einfachste», sagt Banks. (Der Ausstand wurde auch in Europa gewonnen, wo sich UPS-ArbeiterInnen etwa in Belgien, Deutschland, Italien, Frankreich und den Niederlanden mit ihren US-KollegInnen solidarisierten: Deren Aktionen, glaubt Banks, haben die Manager «ziemlich erschüttert».)
USA II: Das Image treffen
Eine Strategie, die auf die Empörung der Öffentlichkeit setzt, funktioniert natürlich nur, wenn die Verhältnisse so sind, dass auch Unbeteiligte aufschreien und einen Handlungsbedarf sehen. Aber dass die Öffentlichkeit gerade in Zeiten der Globalisierung mobilisierbar ist, zeigt ein anderer Kampf, der noch erfolgreicher endete als der siebenwöchige Streik gegen UPS. Auch hier ging es gegen einen Konzern – das deutsche Volkswagenwerk.
Konzernkampagnen funktionieren so, sagt Andy Banks von den Teamsters: «Zuerst brauchen wir die volle Unterstützung der Mitglieder. Wir handeln nicht an ihrer Statt, sondern sie kämpfen für sich selber. Dann tragen wir die Forderung nach aussen – das Anliegen der ArbeiterInnen ist auch im Interesse der Öffentlichkeit. Danach schmieden wir Bündnisse mit allen gesellschaftlichen Gruppen. Und während der ganzen Zeit suchen wir nach den Schwächen des Gegners, überprüfen und beobachten seine Bilanzen, seine Beziehungen, sein Direktorium, seine Lieferanten, seine Kunden, sein Image.» Dieses Vorgehen funktioniere oft ganz ausgezeichnet. Irgendwann, oft in der Mitte der geplanten Eskalation, sei bereits für die meisten Konzernchefs die Schmerzgrenze erreicht. «Dann sind wir gerade dabei, das Image gehörig zu demolieren.»
Der VW-Vorstand hatte im Herbst 1996 das Reparaturwerk im US-Bundesstaat Delaware von einem Tag auf den anderen schliessen lassen. 300 ArbeiterInnen standen vor dem verrammelten Tor; eine schier aussichtslose Sache, noch nie hatten die Teamsters eine Betriebsstilllegung verhindern können. Dreissig Jahre lang hatten die Beschäftigten von Delaware die VW-Importwagen geflickt, die beim Überseetransport ramponiert worden waren. VW aber importierte weiter, die Arbeit war also noch da. Die Konzernleitung hatte sie nur in zwei neu gegründete Werke verlegt, in denen die Gewerkschaft nicht organisieren durfte.
Die Leute vom Teamsters-Büro für strategische Kampagnen hatten in dieser Situation keine Probleme mit der Basis und auch keine mit der Öffentlichkeit: Innerhalb kurzer Zeit unterschrieben alle gewählten Repräsentanten des Staates Delaware eine Petition an den VW-Konzern. Vom Gouverneur über die Senatoren bis hin zu jedem Bürgermeister, Polizeichef, Feuerwehrhauptmann – alle wollten ja wieder gewählt werden. Gleichzeitig zogen die entlassenen VW-ArbeiterInnen zu den 25 umsatzstärksten VW-Händlern des Landes und verteilten Flugblätter. Auf einem Handzettel stand: «Passen Sie auf, was Sie da kaufen!» Er enthielt eine Liste aller Defekte aller VW-Modelle der letzten zehn Jahre. Auf einem zweiten Handzettel prangte die Überschrift: «So viel zahlt der Händler für einen VW!» Innerhalb kurzer Zeit fielen VWs Umsatzzahlen in den Keller.
«Die Interessengegensätze nutzen» ist ein weiterer Grundsatz aus dem Lehrbuch der Konzernkampagne, den die Teamsters befolgten. Sie konnten einige Senatoren gewinnen, die einen Gesetzentwurf einbrachten, demzufolge jeder Importwagen, der auf dem Transportweg zu mehr als drei Prozent seines Wertes beschädigt wird (und das werden fast alle), nicht mehr als Neuwagen verkauft werden darf, sondern als «wieder hergestelltes (Unfall-)Fahrzeug» deklariert werden muss. «Da schnappten die völlig über», erinnert sich Andy Banks; den US-Autoherstellern hats hingegen wohl gefallen. Fünf Monate nach Beginn der Kampagne bot VW mehr als verlangt wurde, nämlich eine Garantie, dass das Werk in Delaware erhalten bleibe, solange VW überhaupt Autos in die Staaten schafft.
Auch diese Geschichte enthält einen internationalen Kern: Banks reiste nach Deutschland, um Informationen über den Konzern zu sammeln. Dort fiel ihm eine Tatsache auf, die in den USA noch kaum bekannt war. Nach seiner Rückkehr sorgte er für eine möglichst grosse Verbreitung seiner Informationen, und bald schon trafen in der niedersächsischen Staatskanzlei die ersten Proteste ein. Man werde in den USA gegen den Herrn Ministerpräsidenten eine Kampagne entfachen, wenn dieser als Aufsichtsratsmitglied von VW nicht zugunsten der ArbeiterInnen von Delaware interveniere. Die Teamsters wussten, wen sie da im Visier hatten – Gerhard Schröders Ambitionen auf einen höheres Amt waren ja eindeutig.