Mittelmeer: «Ich kann Menschen retten, also mache ich das»
Kapitänin Pia Klemp steuert das Rettungsschiff Sea-Watch 3 durchs Mittelmeer, um das Massensterben an Europas Peripherie zu bekämpfen. Dort trifft sie schon mal auf italienische Schiffe unter libyscher Flagge.
Am 6. November lief fast alles schief. Als Pia Klemp mit der «Sea-Watch 3» vor der libyschen Küste zu einem Rettungseinsatz eilte, war auch ein Schiff der libyschen «Küstenwache» vor Ort. Diesen Namen verdiene die unberechenbare Organisation aber kaum, sagt Klemp, denn faktisch handle es sich dabei um eine Miliz. Unter den Geflüchteten auf dem überfüllten Schlauchboot sei es zu einer Massenpanik gekommen, erinnert sie sich: «Anstatt die Situation zu beruhigen, hat die Küstenwache die Menschen angeschrien und geschlagen.»
Menschen und die Meere retten
Der Vorfall ist auf Videoaufnahmen dokumentiert: Es ist zu sehen, wie ein Schlauchboot beinahe vom Schiff der Küstenwache überfahren wird. Dessen Besatzungsmitglieder prügeln mit Seilen auf Flüchtlinge ein, die sie an Bord genommen haben. In Panik springen manche ins Wasser, auch wenn sie nicht schwimmen können. Menschen ertrinken vor laufender Kamera.
Als im Wasser nur noch Tote auszumachen sind, nimmt das Schiff volle Fahrt auf – obwohl sich eine Person noch immer an die Seite klammert. «Wir wissen nicht, ob diese Person überlebt hat oder nicht», sagt Klemp.
Szenen, wie sie auf dem Video zu sehen sind, sind schon seit langem bittere Realität auf dem Mittelmeer. Und damit auch die Realität von Pia Klemp. Als Kapitänin des neuen Rettungsschiffs Sea-Watch 3 ist sie mit ihrer 22-köpfigen Crew vor der libyschen Küste unterwegs, um nach überfüllten Schlauchbooten Ausschau zu halten. So selbstverständlich ist das für die 34-Jährige, dass sie ihre Beweggründe nicht einfach so benennen kann. «Als Seefahrerin und überprivilegierte Europäerin gehört sich das einfach», sagt sie nach kurzem Nachdenken. «Ich kann Schiffe lenken und Menschen vor dem Ertrinken retten, also mache ich das auch.»
Von morgens um 3.40 Uhr bis um 22 Uhr nachts hat sie immer etwas zu tun; Equipment überprüfen, Wellengang und Luftdruck beobachten. Und immer wieder kommen Meldungen von Booten in Notsituationen rein. Wenn sie aber ihren Alltag beschreibt, strahlt Klemp eine verblüffende Ruhe aus. Fast wie das Tattoo auf ihrem rechten Oberarm: Ein Eisberg ragt aus stillem Wasser, zwei Pinguine stehen davor, darüber eine Möwe, die durch einen strahlend blauen Himmel fliegt. Auf dem Unterarm ein Oktopus mit grossen, neugierigen Augen.
Auf den Weltmeeren bildet Klemp eine Ausnahme: Bloss etwa jedes 100. Schiff wird weltweit von einer Frau gesteuert. Praktisch in jedem Hafen, in den sie einläuft, und bei jeder «coast guard», mit der sie zu tun hat, wird das zum Thema. Dann muss sie sich von Männern anhören, dass ihr zielgenaues Manövrieren sie überrasche. Das sei ziemlich absurd: «Auf der ‹Sea-Watch› machen wir unsere Arbeit, weil wir der Überzeugung sind, dass alle Menschen gleich sind», sagt Klemp. «Es ist egal, ob du aus Gambia kommst oder aus Gelsenkirchen – und ob du ein Mann bist oder eine Frau.»
Kampf gegen mächtige Kräfte
Schon seit zehn Jahren hat Klemp keinen festen Wohnsitz mehr. Wenn dieses Jahr zu Ende ist, wird sie zehn Monate davon auf Schiffen verbracht haben. Sie hat ihre nautische Karriere einst als einfache Hilfskraft auf einem Schiff begonnen und sich dann bis zur Kapitänin hochgearbeitet. Vor sechs Jahren heuerte sie dann spontan auf einem Schiff von «Sea Shepherd» an, einer militanten Umweltschutzorganisation. Sie sammelte wichtige Erfahrungen; im Südpolarmeer geriet sie einmal mit der japanischen Walfangflotte aneinander, wobei ihr Boot von einem gigantischen Schiff gerammt wurde und beinahe kenterte. «In solchen Momenten muss man ruhig bleiben und alles richtig machen», sagt sie. «Emotionen darf man sich erst später erlauben.»
Das gilt auch für die Arbeit auf der «Sea-Watch 3». Auch hier kämpft Klemp gegen mächtige Kräfte an. Beharrlich will die EU Menschen daran hindern, Libyen zu verlassen – ein Land, in dessen Flüchtlingslagern systematisch gemordet, gefoltert und vergewaltigt wird. Und an Tagen wie dem 6. November wird deutlich, wie direkt Europa das Sterben auf dem Mittelmeer mit verantwortet. Denn beim Schiff der Küstenwache – der «Ras Jadir» – handelte es sich gemäss dem jüngsten Bericht von Amnesty International um eine Spende der italienischen Regierung.
45 Menschen konnte die Crew der «Sea-Watch 3» an diesem Tag aus dem Wasser retten. Bis zu 50 Menschen ertranken aber, darunter ein zweijähriger Junge, den die Crew vergeblich wiederzubeleben versucht hatte. Er ist einer von über 3000 Geflüchteten, die in diesem Jahr im Mittelmeer bereits ums Leben gekommen sind.