Durch den Monat mit Reeto von Gunten (Teil 4): Warum stossen Sie das Publikum vor den Kopf?
Reeto von Gunten über die Zusammenarbeit mit jüngeren Kulturschaffenden, den Zusammenhang zwischen Risiko und Kunst, erstaunliche Kinder auf der Bühne und seine alten Tagebücher.
WOZ: Reeto von Gunten, Sie haben letzte Woche erwähnt, dass Sie immer noch so konzentriert Musik hören wie mit fünfzehn. Sind Sie auch immer noch gleich begeistert, wenn Sie etwas Neues entdecken?
Reeto von Gunten: Wie ein Goof! Ganz schlimm! Ich gehe auch an Konzerte, ganz egal wo. Und dann stehe ich in einem Keller zwischen Neunzehnjährigen, die sich alle fragen, ob der seine Tochter sucht. Eine Zeit lang machte mir das Sorgen – ich dachte, ich werde nicht erwachsen. Aber mittlerweile empfinde ich es als enormen Luxus.
Sie sind sehr gut vernetzt mit Bühnenschaffenden, die eine Generation jünger sind.
Das hat sicher mit dem Job beim Radio zu tun – aber auch mit dem Verständnis für ihre Situation, weil ich selber auch Texte auf Bühnen vortrage. Ich habe das Glück, dass man meinen Namen schon kennt. Aber wer dieses Glück nicht hat, wird erst mal nicht gebucht. Obwohl seine Geschichten womöglich viel besser sind als meine. Darum gründete ich das «Atelieer» und begann, Veranstaltern zu sagen: «Es war lustig bei dir, aber ich kenne eine, die ist noch viel lustiger. Buch sie doch mal.»
Gibt es da Leute, die Sie erwähnen wollen?
Alle, die mit mir im «Atelieer» sind, sind grossartig und Siebesieche. Wir entwickeln zusammen gerade Verschiedenes, auch gemeinsame Programme. Ich glaube, dass man eigentlich erst mit siebzig richtig gut Geschichten erzählen kann. Aber wenn man erst dann beginnt, ist es zu spät.
Verändern Sie Ihre Texte live?
Ja. Heftigst. Je länger eine Tournee dauert, desto mehr werden meine Auftritte freestyle. Es wäre der Horror, immer genau das Gleiche zu erzählen.
So wie in Ihrer Geschichte, in der ein Musiker in der Ikea in eine Zeitschleife gerät?
Genau. Es ist zentral, dass auf der Bühne etwas Unvorhergesehenes passiert, sonst müsste man ja nicht hingehen. Wenn du dich zu erinnern versuchst, was dich auf einer Bühne richtig beeindruckt hat, ist das ja häufig etwas, bei dem du das Gefühl hast: Das passiert normalerweise nicht. Die Momente, wo man zuschauen kann, wie die Leute, die etwas vortragen, plötzlich nicht mehr ganz bei sich sind. Lustigerweise gerade bei Singwettbewerben wie «Deutschland sucht den Superstar».
Da kommt ein Kind auf die Bühne, und du denkst: «Jesses Gott, das arme Geschöpf …» Dann fängt es an vorzutragen – und es hat nichts mehr damit zu tun! Es wird von etwas getragen, das stärker ist als die Person, das weiter geht als die Person. Ich würde behaupten, diese Kraft allein ist die Kunst. Das ist aber sehr fragil und sehr selten. Wenn du jeden Abend das Gleiche machst und nie etwas riskierst, passiert es nie. Je häufiger du es riskierst, desto grösser ist die Chance, dass es passiert. Es kann aber auch scheitern.
Was geschieht, wenn es scheitert?
Von aussen gesehen gar nicht so viel. Ich für mich aber habe das Gefühl, ich möchte jetzt sterben.
Sie erzählen in Ihrem aktuellen Programm viele Geschichten über den Alltag, der aus den Fugen gerät.
Ich glaube, das liegt daran, dass ich in einer dystopischen Phase bin. Das ist nicht immer so. Eine Zeit lang sind die Leute immer gestorben in meinen Geschichten.
Mitten im Programm kommen Sie plötzlich mit einer sehr ernsten Geschichte über Flüchtlinge – und stossen die Leute vor den Kopf.
Öppe hoffentlich! Danach fragt fast immer jemand: «Wieso machst du das? Du könntest doch so lustig sein.» Ich finds einfach wichtig, dass man dieses Thema nicht vergisst, nur weil es jetzt nicht mehr jeden Abend in der «Tagesschau» kommt. Ich finde es unerträglich, wie mit Zahlen hantiert wird. 200 Leute, die im Mittelmeer ertrinken, gelten als viel weniger schlimm als 200 Leute, die bei einem Terroranschlag sterben. Warum soll ein Menschenleben je nach Herkunft oder Geschichte eine kleinere oder grössere Bedeutung haben?
Ist Migration das Thema, das Sie politisch am meisten beschäftigt?
Nein, es gibt viele. «No Billag» natürlich auch. Aber es wäre kontraproduktiv, auf der Bühne dazu etwas zu sagen.
Noch gut fünf Wochen bis zur Abstimmung – hat die Initiative eine Chance?
Mich erschreckt, dass so viele glauben, es gehe nur um ihre 365 Franken. Und jeden Sonntag schreiben mir Leute Mails ins Studio, die fragen: «Aber gell, dein Job ist dann nicht gefährdet durch diese Initiative?» Vor drei Jahren hätte ich ihr keine Chance gegeben. Aber dann kamen der Brexit und die Trump-Wahl … und seither hat das irritierende Gefühl nicht mehr aufgehört, dass ganz viele Dinge, auf die ich vertraue, nicht funktionieren. Wie zum Beispiel: Staat. – Mit etwa zwölf habe ich einmal in mein Tagebuch geschrieben: «Das Schlimmste ist, dass man sich daran gewöhnt.» Ich weiss zwar nicht mehr, warum ich das geschrieben habe – wahrscheinlich aus sehr egoistischen Gründen. Aber es trifft auf fast alles zu. Nicht zuletzt auf den eigenen Musikgeschmack.
Reeto von Gunten (54) ist Sonntagmorgen- moderator bei SRF 3 und tritt auf diversen Kleinkunstbühnen auf. In seinem «Atelieer» vernetzt er Bühnenschaffende, unter anderem die ehemalige TV-Moderatorin Gülsha Adilji.