Generalstreik 1918: «Da wir nun einmal das Eisen im Feuer haben …»
Ernst Jakob gehörte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu den PionierInnen der Gewerkschaftsbewegung. Über dreissig Jahre lang amtierte der «rote Lokführer» auch als Gemeindepräsident einer Berner Landgemeinde.
Mittwoch, 13. November 1918. Der zweite Tag des Generalstreiks. Vormittags um halb elf versammeln sich die Bieler Eisenbahner im Café Emch. Die Stimmung ist angespannt: Nach dem erfolgreichen ersten Streiktag sind in der Nacht Soldaten aus der Westschweiz eingetroffen. Sie sollen den Bahnhof besetzen.
Der 39-jährige Lokomotivführer Ernst Jakob ergreift das Wort. Die Bieler Eisenbahner haben den bekannten Gewerkschafter und SP-Politiker zu ihrem Streikobmann ernannt. Eben noch hat er mit dem Platzkommandanten Oberst Jordi und dem Berner Regierungsstatthalter verhandelt und erreicht, dass Militär und Justiz vorläufig auf die angedrohten Massnahmen verzichten. Nun appelliert der kleine, drahtige Mann mit dem grossen Schnauz an den Durchhaltewillen seiner Kollegen: «Es geht um das Ganze, es geht um das Wohl unserer Angehörigen, um die zukünftige Besserstellung von unseren Frauen und Kindern! Da wir nun einmal das Eisen im Feuer haben, wollen wir dafür sorgen, dass es auch ausgeschmiedet wird.»
Die Situation der Streikenden ist prekär: Nach vier Jahren Kriegswirtschaft klafft die Schere zwischen Arm und Reich in der Schweiz immer weiter auseinander. Vielerorts kommt es zu Demonstrationen der hungernden Bevölkerung. Als der Bundesrat Soldaten gegen die Protestierenden aufmarschieren lässt, eskaliert die Lage. Anfang November 1918 ruft das Oltener Aktionskomitee den landesweiten Generalstreik aus.
Bieler Bahnhof blockiert
Die Bieler Eisenbahner stehen mehrheitlich hinter dem Streikbeschluss. Ihre Parole lautet: Kein Zug darf den Bahnhof verlassen, und keiner darf einfahren. Als Streikbrecher trotzdem versuchen, mit Zügen aus Bern und Delémont den Bahnhof zu erreichen, werden sie von einer Volksmenge, die die Geleise mit Steinen blockiert, aufgehalten und in die Flucht geschlagen. Dieser erste Erfolg gibt Mut.
Doch es kommt anders. Keine 24 Stunden nach seiner Durchhalteparole muss Genosse Jakob vor 500 Eisenbahnern den Abbruch des Generalstreiks verkünden. «Die Gründe der Vernunft sagen uns, dass wir nun aufhören müssen, wenn nicht wir als Opfer auf der Strecke bleiben sollen. Das ist die Ansicht des Bureaus», versucht er, die aufgewühlten Gemüter zu beruhigen. Der Kampf gehe trotzdem weiter, fährt Jakob fort – zum Beispiel dank des neuen Proporzgesetzes, das bei den nächsten Nationalratswahlen Auswirkungen zeigen werde: «Wir wollen die Hoffnung nicht aufgeben, dass wir auf dem Wege der Demokratie zu besseren Zuständen kommen können.»
Ernst Jakob stammt aus bescheidenen Verhältnissen. Sein Vater ist Bäcker im bernischen Bauerndorf Dieterswil. 1882 stirbt dieser an Tuberkulose, worauf die Mutter mit dem dreijährigen Ernst und seiner kleinen Schwester zurück in ihre Heimatgemeinde Lyss zieht, wo sie in einer Uhrenfabrik arbeitet. 1889 heiratet sie den jüngeren verwitweten Bruder ihres verstorbenen Mannes. Dieser wohnt in Port und arbeitet im nahe gelegenen Biel als Weichenwärter. Sein Monatsgehalt von 116 Franken reicht kaum für den Unterhalt der mittlerweile zehnköpfigen Familie.
Der junge Ernst Jakob ist ein guter Schüler. Sein Berufsziel: Lokführer. Nach der Lehre als Maschinenschlosser bei der Jura–Simplon-Bahn in Biel bleibt er bei der Eisenbahn und arbeitet in der Westschweiz, im Emmental und im Kanton Solothurn. 1900 kehrt er nach Port zurück und heiratet die gleichaltrige Bertha Nickles aus dem Nachbardorf Jens. Im gleichen Jahr wird er zum Lokomotivheizer befördert – 1914 dann zum Lokomotivführer.
Schon sehr jung kommt Ernst Jakob mit der Gewerkschaftsbewegung in Kontakt. «Als siebzehnjähriger Lehrjunge hatte ich das seltene Glück», erinnert er sich später, «der ersten grossen Eisenbahnerlandsgemeinde vom 16. Februar 1896 in Aarau beizuwohnen, die der Ausgangspunkt zum Nordost-Bahn-Streik war. Zehn Jahre später stand ich bereits als junger Lokomotivheizer mitten in der Eisenbahnerbewegung.» Er engagiert sich im Verein Schweizerischer Lokomotivheizer (VSLH), wo er sich für den Beitritt der Eisenbahner zum Schweizerischen Gewerkschaftsbund (SGB) starkmacht. Während sich der Verein Schweizerischer Lokomotivführer gegen ein gewerkschaftliches Engagement sträubt, tritt der linke VSLH am 1. Januar 1910 als erste Eisenbahnerorganisation dem SGB bei, ein Erfolg, der nicht darüber hinwegzutäuschen vermag, dass die Aufsplitterung der Eisenbahner in zahlreiche Einzelorganisationen deren Durchsetzungs- und Verhandlungskraft schwächt.
Rote Politik im Bauerndorf
Ernst Jakob ist ein vehementer Verfechter der Einheitsgewerkschaft und gehört zu den treibenden Kräften, die 1919 die Gründung des Schweizerischen Eisenbahnerverbands (SEV) erwirken. Als einer, der die Arbeit bei der Eisenbahn von der Pike auf gelernt und die Entwicklung vom Dampfbetrieb bis zur Elektrifizierung miterlebt hat, vertritt er konsequent die Interessen der ArbeiterInnen. Das zeigt Wirkung: Trotz schwieriger Rahmenbedingungen erreicht der SEV in der Zwischenkriegszeit markante Verbesserungen für die MitarbeiterInnen der SBB.
Doch auch daheim in Port, wo Ernst Jakob mit seiner Frau und den fünf Kindern lebt, engagiert er sich für Fortschritt und bessere Lebensbedingungen. Das Dorf zählt Ende des 19. Jahrhunderts knapp 400 EinwohnerInnen. Die meisten leben von der Landwirtschaft, viele mehr schlecht als recht. Deshalb pendeln zahlreiche PorterInnen nach Biel, wo sie in den Eisenbahnerwerkstätten und Fabriken Arbeit finden, mit der sie ihre Familien über die Runden bringen.
In den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts gründet Ernst Jakob mit Gleichgesinnten den Arbeiterverein Port. Bereits 1909 erlangen «die Roten» die Mehrheit im fünfköpfigen Gemeinderat. Ernst Jakob betreut im Nebenamt das Ressort Schul- und Armenwesen. 1915 wird er Gemeindepräsident. Über dreissig Jahre lang – bis zu seinem Rücktritt im Jahr 1946 – wird er bei den Wahlen stets im Amt bestätigt. Gleichzeitig hält die SP während dieser Zeit die Mehrheit im Gemeinderat. In Port ist sozialistische Gemeindepolitik gelebte Realität, lange bevor das «rote Biel» oder das «rote Zürich» für Schlagzeilen sorgen.
Natürlich haben Ernst Jakob und seine GenossInnen nicht freie Hand: Laufend müssen die Gemeindepolitiker nach Kompromissen suchen. Oft klaffen die Interessen der BäuerInnen und der Lohnabhängigen weit auseinander. Ein Problem sind die stets knappen finanziellen Mittel. Trotzdem schaffen es die Porter SozialdemokratInnen, wichtige Weichen zu stellen: In den ersten Jahren stehen der Ausbau der Wasserversorgung sowie die Einführung der elektrischen Stromversorgung im Zentrum.
Das geht nicht ohne Steuererhöhung. Doch Ernst Jakob weiss, wie er seine ZuhörerInnen überzeugen kann. Nicht selten dreht er eine Diskussion mit seinem Votum zugunsten der Armen. So etwa, als er während des Ersten Weltkriegs gegen den Widerstand der wohlhabenden Landwirte durchsetzt, dass die KleinbäuerInnen der Armee kein Heu abliefern müssen. Und auch die Dorfschule wird in dieser schwierigen Zeit weiter gefördert: Die Gemeinde übernimmt die Kosten für Lehrmittel und Schulmaterial, ein Abwart wird eingestellt, sogar eine Schulbibliothek aufgebaut.
Auch in den umliegenden Seeländer Gemeinden wirbt Ernst Jakob unermüdlich für die Sache der ArbeiterInnen: Bei den Wahlen im Frühjahr 1918 kann die SP des Kreisverbands Seeland ihre Sitze im Kantonsparlament von acht auf fünfzehn fast verdoppeln. Unter den neu Gewählten: Ernst Jakob. Ein Jahr später, bei den ersten Proporzwahlen auf Bundesebene, schafft er auch den Sprung in den Nationalrat. Allerdings muss er dieses Mandat nur drei Jahre später wieder aufgeben: Ein neues Gesetz bestimmt, dass Bundesbeamte nicht im Bundesparlament sitzen dürfen. Dafür kämpft Ernst Jakob umso engagierter im bernischen Grossen Rat, wo er sich zwanzig Jahre lang für die Verbesserung der sozialen Rahmenbedingungen einsetzt. 1928 wählt ihn das Kantonsparlament zum Präsidenten. Ein Markstein in der Geschichte der ArbeiterInnenbewegung des Kantons Bern, wie die linke «Seeländer Volksstimme» schreibt: «Zum ersten Mal bekleidet ein einfacher Arbeiter, ein Lokomotivführer, das höchste Ehrenamt, das der Kanton zu vergeben hat!» Am Wahlabend versammelt sich ganz Port im «Löwen», um seinen Präsidenten zu feiern.
Ein Arbeiter unter Tintenschleckern
Zum Auftakt der Wintersession 1928 sorgt der ehemalige Streikführer auf dem Stuhl des Grossratspräsidenten für heisse Köpfe: Der erste Sitzungstag fällt auf den 12. November. Diese Gelegenheit lässt sich Ernst Jakob nicht entgehen und nimmt in seiner Eröffnungsrede kein Blatt vor den Mund: «Vor genau zehn Jahren», ruft der Arbeiter-Grossratspräsident in den voll besetzten Saal, «ist der Generalstreik das Sicherheitsventil gewesen, das den überhitzten Kessel vor der Explosion und Zerstörung geschützt hat. Allmählich wird man sich daran erinnern müssen: Es ist zu erwarten, dass mit der Erstarkung des Wirtschaftslebens alle sozial denkenden Kreise zusammenhalten werden, um das zu erreichen, was zum Aufstieg des ganzen Volkes notwendig ist, ohne dass sich die besitzlosen Volksschichten wieder eines Sicherheitsventils bedienen müssen wie im Jahre 1918.»
Der Protest der bürgerlichen Mehrheit im Rat kommt postwendend: Am Ende der Sitzung verliest der spätere Bundesrat Rudolf Minger als Präsident der Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (der Vorläuferin der SVP) im Namen der bürgerlichen Fraktionen eine Protestnote. In der bürgerlichen Tageszeitung «Der Bund» unterstellt Chefredaktor Ernst Schürch dem Lokführer Jakob Unfähigkeit. Darauf kontert die linke «Volksstimme» und zählt Jakobs Vorzüge auf, «der längst die Möglichkeit gehabt hätte, ins Lager der Tintenschlecker abzuschwenken, wenn er nicht, Herr Schürch, offenbar in dieser Zunft so viele Individuen kennen gelernt hätte, in seinem langjährigen politischen Kampf, nach deren Kollegialität ihn nicht dürstet».
1934 muss Ernst Jakob infolge einer berufsbedingten Herzkrankheit den Lokführerberuf aufgeben. Stattdessen beginnt seine zweite Politkarriere auf Bundesebene: 1935 wird er erneut in den Nationalrat gewählt, dem er – mit Unterbrüchen – bis zu seinem Tod angehört.
Im Herbst 1947, kurz nach der Annahme der AHV durch die Schweizer Stimmberechtigten, reicht Ernst Jakob im Nationalrat ein Postulat für die Einführung einer weiteren Sozialversicherung zugunsten der Behinderten ein. Die gesetzliche Verankerung der IV wird 1960 Wirklichkeit – zehn Jahre nach Jakobs Tod.
Heute, ein halbes Jahrhundert später, würden Ernst Jakob und seine MitstreiterInnen empört reagieren – ob des rechtslibertären Grossangriffs auf alles, was sie erkämpft und erreicht haben. Nie hätten sie sich träumen lassen, dass der Begriff «Sozialstaat» dereinst zu einem Schimpfwort verkommen könnte.
Die Autorin Gabriela Neuhaus ist die Urenkelin von Ernst Jakob.