«Für des Volkes Rechte, gegen alles Schlechte» Aufstieg, Niedergang, Verschwinden: Ein Spaziergang durch die Geschichte der ArbeiterInnenpresse in der Schweiz.

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Es war im Oktober 1924, als ein junger Student der Nationalökonomie abends bei seiner Zimmervermieterin einen Anruf aus Biel erhielt: Sein Studienfreund Kurt Düby war am Apparat, ehemaliger Genosse in der Sozialistischen Studentengruppe der Universität Bern. «Du, hör mal», sagte Düby – «du, los emol! –, ich bin jetzt Redaktor bei der ‹Seeländer Volksstimme›, aber mir passt das gar nicht. Ich muss da auch viel zu früh aufstehen am Morgen und möchte wieder weg.»

Die «Seeländer Volksstimme» erschien dreimal pro Woche. Sie war einige Jahre zuvor als «Arbeiter-Blatt» gegründet worden, herausgegeben vom Drucker Fritz Jordi, der von der Sozialdemokratischen Partei einen Zuschuss erhielt. Bei den Wahlen 1919 hatte die Linke die Mehrheit in der Bieler Exekutive errungen, 1921 auch jene in der Legislative, doch weil sich Jordi beim Druck der Zeitung verkalkulierte, weil Inserate und Abonnemente ausblieben und seine Artikel nicht allen passten – er war gleichzeitig Redaktor, Setzer und Drucker –, übernahm die Partei die Herausgabe in eigener Regie. Das ist die eine Version. Die andere: Jordi übergab das «Arbeiter-Blatt» den Kommunisten, und die Sozialdemokraten mussten von vorn anfangen. 1923 gründeten sie mit den lokalen Gewerkschaften eine Genossenschaftsdruckerei. In Bibliothekskatalogen ist die «Seeländer Volksstimme» ab 1920 verzeichnet.

Der Student, der 1924 den Anruf entgegennimmt, heisst Ernst Rodel. Mit 23 Jahren hat er gerade die Recherchen für eine Dissertation begonnen. Jeden Tag reist er dazu von Bern ins Staatsarchiv des Kantons Freiburg, doch nach diesem Telefonat fährt er am nächsten Morgen nach Biel, wo ihn Düby am Bahnhof abholt und zum alten Volkshaus in der Juravorstadt bringt. Er wird Guido Müller vorgestellt, dem sozialdemokratischen Stadtpräsidenten, der auch die Redaktionskommission der «Seeländer Volksstimme» präsidiert. Müller sagt, er könne nicht versprechen, dass die Zeitung noch lange existiere, wenn aber Rodel die Nachfolge von Düby antrete, dann sei er froh.

Ernst Rodel hat bisher Leserbriefe und Korrespondenzen für den linken «Freien Aargauer» aus seiner Herkunftsregion, dem Aargauer Seetal, geschrieben. Wegen eines Texts über den Tod eines Verdingbuben hat er 1918 die Lehrstelle bei einer Bank verloren, darauf hat er die Matura nachgeholt. Nun bricht er das Studium ab; am Tag nach dem Vorstellungsgespräch beim Stadtpräsidenten beginnt er als Alleinredaktor der ArbeiterInnenzeitung «Volksstimme» in Biel. Der Vorgänger Düby ist bereits verschwunden; er wird später sozialdemokratischer Nationalrat und 1946 Bundesrichter. Rodel wird Lokalpolitiker, zwei Legislaturen lang ebenfalls Nationalrat; allerdings arbeitet er bis zur Pensionierung weiter als Journalist für sozialdemokratische Blätter. Als er 1993 hochbetagt stirbt, hat er die Zeitungen, die er einst redigierte, um Jahre und Jahrzehnte überlebt.

«Kommunistische Umtriebe»

Die erste sozialistische ArbeiterInnenzeitung ist vermutlich der «Bote von Uster» oder «Usterbote», den ab 1845 der junge Lehrer und Rechtsstudent Johann Jakob Treichler redigiert. Im Oktober 1845 tauft Treichler die Zeitung in «Allgemeines Noth- und Hülfs-Blatt» um, mit der Begründung, sie sei schon länger kein Lokalblatt mehr und der neue Name drücke «am ehesten aus, was wir eigentlich wollen; nämlich die Noth darstellen, die in den arbeitenden Klassen immer mehr um sich greift, und zugleich die Mittel bezeichnen, durch welche dieser Noth abgeholfen werden kann».

Treichler steht mit deutschen Emigranten in engem Kontakt, etwa mit Wilhelm Weitling, einem kommunistischen Theoretiker. Das «Noth- und Hülfs-Blatt» kämpft gegen die Verelendung der Zürcher Industriebevölkerung und gegen die Kinderarbeit in den Fabriken. 1846 lässt die Zürcher Regierung die Zeitung durch ein extra erlassenes «Gesetz gegen kommunistische Umtriebe» verbieten. Der 24-jährige Treichler eröffnet nun eine Anwaltspraxis in Zürich, er wird Mitbegründer des Konsumvereins, der heutigen Coop-Genossenschaft, bald auch Mitglied des Grossen Rats, wie der Kantonsrat damals hiess. Doch 1856 wechselt er die Seite: Mit Unterstützung des Wirtschafts- und Eisenbahnpioniers Alfred Escher macht er eine steile Karriere, wird freisinniger Regierungsrat, später Oberrichter, Verwaltungsrat der Rentenanstalt sowie der Kreditanstalt, Rechtsprofessor sowohl an der Universität Zürich als auch an der ETH. In den 1860er Jahren schliesst der sozialdemokratische Grütliverein den einst radikalsozialistischen Redaktor des «Allgemeinen Noth- und Hülfs-Blatts» – ein Ehrenmitglied – als Rechtsabweichler aus.

Der Grütliverein gibt seit 1851 eine eigene Zeitung heraus, ab 1888 auch auf Französisch. Mit der Spaltung des Vereins in Sozialdemokraten und linksbürgerliche Demokraten geht das Blatt 1925 nach 74 Jahren ein. Die französische Ausgabe «Le Grutli» existiert bis 1943. Der «Grütlianer» ist heute integral im Netz zu lesen: eine unerschöpfliche Quelle zur Geschichte von Handwerkern, ArbeiterInnen, Gesellen, kleinen Meistern und ihren Versuchen, die «allgemeine Noth» zu lindern und entweder kollektiv oder individuell zu mehr sozialer Gerechtigkeit, besseren Lebensbedingungen und beruflichen Aufstiegschancen zu gelangen.

Um die Mitte des 19. Jahrhunderts tauchen weitere ArbeiterInnenzeitungen auf, etwa die «Tribune Populaire» in Genf oder «Der Arbeiter» in St. Gallen, die 1848/49 nur jeweils einige Monate lang erscheinen. «Das Felleisen», das «Organ der deutschen Arbeiterbildungsvereine in der Schweiz», vertritt ab 1863 die Anliegen der damaligen Wanderarbeiter – der in ihrem Status gerne verklärten, herumziehenden Handwerksgesellen – und informiert sie über unsoziale Arbeitgeber, Streiks, Stellenbörsen und Unterstützungsmöglichkeiten. Aus den ArbeiterInnenbildungsvereinen entstehen – oft von Deutschen initiiert – die ersten gewerkschaftsähnlichen Organisationen. 1858 gründet sich der Schweizerische Typographenbund, der eine eigene Zeitung herausgibt, die «Helvetische Typographia»; in den Anfangszeiten organisiert er neben den Gesellen aber auch die Patrons.

Nach 1860 beginnt die eigentliche Gründerzeit der Schweizer ArbeiterInnenbewegung. Überall entstehen jetzt kleine Gewerkschaften, oft sind es zuerst einfach Hilfs- und Krankenkassen auf Gegenseitigkeit, viele vernetzen sich als Sektionen der Internationalen Arbeiter-Assoziation (IAA), wobei sich die IAA oder «Erste Internationale» – zwischen den ideologischen Polen von Karl Marx und Michail Bakunin – bald in MarxistInnen und AnarchistInnen aufteilt und wieder verschwindet. Ab 1864 erscheint in Genf die kommunistische Zeitung «Der Vorbote», redigiert vom deutschen Emigranten Johann Philipp Becker. 1865 hat der «Grütlianer» in der deutschen Schweiz schon 2332 AbonnentInnen. Ab 1870 geben Sozialdemokraten und Gewerkschafter in Zürich eine eigene Zeitung heraus, «Die Tagwacht», redigiert vom schlesischen Buchbinder Herman Greulich, der als Handwerksbursche ins Land gelangt ist und zu einer Gründerfigur der Schweizer Linken wird. 1873 übernimmt der Arbeiterbund, ein Vorläufer des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds, die «Tagwacht»; sie erreicht eine maximale Auflage von etwa 2000 Stück, bevor sie 1880 mit dem Arbeiterbund eingeht beziehungsweise 1881 – bei einer Neugründung der Sozialdemokratischen Partei in Zürich – durch deren Parteiorgan ersetzt wird.

Gewerkschafts- und Parteiblätter

In Chur kündigt 1878 der Buchdrucker Conrad Conzett das Erscheinen einer Zeitung mit dem Titel «Der Volksfreund» an. Conzett ist ein heimgekehrter Auswanderer, er hat in Chicago deutschsprachige ArbeiterInnenblätter herausgegeben. «Der Volksfreund» in Chur trägt das Motto «Für des Volkes Rechte, gegen alles Schlechte!», und der Verleger schreibt dazu: «Unser Panier ist das des gesunden, vernunftgemässen Fortschritts auf sozialem und politischem Gebiet.» Ein Jahr später sehen wir Conzett in Zürich, und zwar als Schweizer Strohmann für deutsche Sozialisten, die in Hottingen die verbotene Parteizeitung «Sozialdemokrat» herstellen, um sie über die Grenze ins Kaiserreich zu schmuggeln. 1888 werden die ausländischen Redaktions- und Vertriebsleute vom Bundesrat des Landes verwiesen. Nach Conzetts frühem Tod führt dessen Witwe Verena, eine ehemalige Textilarbeiterin und aktive Sozialistin, die Druckerei weiter. Unter dem Namen Conzett & Huber wird daraus ein bedeutender Zeitschriftenverlag.

Mit dem Erstarken der Arbeiterbewegung – noch ist fast ausschliesslich von Männern die Rede – geht eine Ausdifferenzierung zwischen Gewerkschafts- und Parteiblättern einher. Erstere sind vor allem für Mitglieder gedacht, Letztere auch für die politische Öffentlichkeit, die über sozialistische Standpunkte informiert und agitiert werden soll. Gegen Ende des Jahrhunderts boomen beide Zeitungstypen. Als frühes linkes Parteiblatt erscheint ab 1890 in La Chaux-de-Fonds «La Sentinelle». In Bern wird ab 1893 die «Berner Tagwacht» herausgegeben, in Luzern der «Demokrat». 1898 gründen Zürcher Genossen das «Volksrecht», 1904 die St. Galler den «Vorboten». 1905 erscheint in Olten erstmals die «Neue Freie Zeitung», 1906 die «Appenzeller Volkswacht» in Herisau, «La Voix du Peuple» in Lausanne und der «Freie Aargauer» in Aarau sowie – als erste linke Frauenzeitung – die vom Gewerkschaftsbund gestützte «Vorkämpferin» in Bern, redigiert von der Frauenrechtlerin Margarethe Faas-Hardegger. Ihre Westschweizer Ausgabe heisst «L’Exploitée».

1914 gibt es laut einer Untersuchung des späteren SPS-Präsidenten Hans-Jürg Fehr in der Schweiz 92 ArbeiterInnenzeitungen mit einer Gesamtauflage von ungefähr 140 000 (die bürgerlichen Zeitungen drucken 1,5 Millionen Exemplare), elf der Zeitungen erscheinen täglich. Selbst Schwyz hat seit 1912 eine sozialdemokratische Zeitung («Schwyzer Demokrat»), im Kanton Zürich erscheinen neben dem «Volksrecht» zwei weitere tägliche ArbeiterInnenzeitungen, eine in Winterthur und eine in Wetzikon.

Ähnlich wie es in dieser Zeit auch im Sport eine Spaltung in katholische, sozialdemokratische und freisinnige Parallelkulturen gibt (katholischer Turnverein, Arbeiter-Turn- und Sportverein, Eidgenössischer Turnverein), ist die Schweiz bis weit in die Mitte des 20. Jahrhunderts hinein von einem Netz freisinniger, katholischer und sozialistischer Zeitungen überzogen, die sich formal weit weniger unterscheiden als inhaltlich. Parteilose Forumsblätter wie der Zürcher «Tages-Anzeiger» werden politisch erst später relevant und dienen vor allem als Inserateplantagen. Von 1895 bis 1914 erscheint mit dem «Neuen Postillon» in Zürich sogar ein «Arbeiterwitzblatt», eine linke Satirezeitschrift. Und von 1920 bis 1980 geben gewerkschaftliche Kreise in Bern den «Aufstieg» heraus, eine «illustrierte Familienzeitschrift für das arbeitende Volk».

Mit Schere und Leim

Herbst 1924. Ernst Rodel, frisch eingestellter Alleinredaktor, wird in Biel in den neuen Beruf eingeführt. Man zeigt ihm das Redaktionspult, die Schere, den Leimtopf. Eine Agentur kann sich die «Seeländer Volksstimme» nicht leisten, deshalb wird sie zu grossen Teilen aus anderen Zeitungen zusammenmontiert, indem der Redaktor die interessantesten Nachrichten ganz oder absatzweise ausschneidet, aufs Manuskriptblatt klebt und zwischen die Textblöcke – die Quelle ist meistens kenntlich gemacht – ein paar Übergänge schreibt. Dazu kommen lokale Meldungen, Theater- und Kinovorschauen, Berichte von Parteiversammlungen, Verlautbarungen sowie eigene Kommentare und Glossen. Alles wird getippt und geklebt, danach vom Setzer nochmals getippt, in Blei gegossen und vom Metteur umbrochen.

Weil Wahlen vor der Tür stehen, erhöht die «Volksstimme» ihren Erscheinungsrhythmus von drei auf fünf Ausgaben pro Woche. Der Redaktor knüpft ein Netz von lokalen Korrespondenten; die Exponenten des «roten Biel» gewinnt er als Kolumnisten. Die Auflage verdoppelt sich auf rund 3000 Exemplare, die «Volksstimme» wird zum treuen Sprachrohr der von Stadtpräsident Guido Müller betriebenen «sozialistischen Gemeindepolitik»: Es geht um Arbeitsbeschaffung, Wohnungs- und Städtebau und den Grundsatz, dass öffentlicher Besitz «der Besitz der Besitzlosen» sei, weshalb er vermehrt und gepflegt werden müsse. Mit dem zeittypisch autoritär regierenden Stadtpräsidenten ist der Redaktor ein Leben lang befreundet; selbst als die «Volksstimme» über einen Streik der StadtwerksarbeiterInnen berichtet und damit den Präsidenten erzürnt, bleibt das Verhältnis offenbar unbeschädigt. 1928 wechselt Rodel zum sozialdemokratischen Parteiblatt nach Aarau, in seine Herkunftsregion, in der er bis 1935 bleibt.

Männer machen Karriere

Der «Freie Aargauer» erscheint erstmals am 1. Mai 1906. Zunächst wird er zweimal pro Woche von Mitgliedern des Typographenbunds hergestellt, die aus bürgerlichen Betrieben entlassen worden sind. Ab 1912 kommt die Zeitung täglich heraus, ab 1920 redigiert sie der promovierte Handelslehrer Arthur Schmid, der gleichzeitig als kantonaler Parteisekretär amtiert. Schmid sitzt von 1919 bis zu seinem Tod 1958 im Nationalrat und gleichzeitig auch im aargauischen Grossen Rat. Von 1925 bis 1936 präsidiert er die SP-Nationalratsfraktion, von 1941 bis 1947 gehört er der Eidgenössischen Vollmachtenkommission an, die den Bundesrat kontrolliert. Wie der Politiker Schmid neben seinen politischen Ämtern noch eine Tageszeitung mit nur einem zeichnenden Nebenredaktor – dem jungen Ernst Rodel – leiten konnte, ist aus heutiger Sicht gar nicht vorstellbar. Aber unter seiner Leitung entwickelt sich der «Freie Aargauer» zu einer weitherum wahrgenommenen Publikation, deren Auflage jener der bürgerlichen Konkurrenz, des «Badener Tagblatts» und des «Aargauer Tagblatts», gefährlich nahe kommt.

Schmids Ämterkumulation ist typisch für die sozialistische Presse. Auch bei Robert Grimm, einem gelernten Schriftsetzer, der von 1909 bis 1918 die «Berner Tagwacht» leitete, lässt sich kaum nachvollziehen, wann er überhaupt die Zeit fand, sein Blatt zu redigieren: Grimm sass im Berner Stadtparlament und im Nationalrat, er organisierte die internationalen sozialistischen Konferenzen von Zimmerwald (1915) und Kiental (1916), verhandelte 1917 in Petersburg glücklos über einen Separatfrieden und führte 1918 den Landesstreik an, bevor er in die stadtbernische Exekutive und von dort in den Regierungsrat gewählt wurde. Während seiner Zeit als Redaktor steigerte sich die Auflage der «Tagwacht» kontinuierlich und erreichte am Ende des Ersten Weltkriegs 17 000 Stück. Ein ähnlicher Fall ist der frühere Primarlehrer Ernst Nobs: Dieser beginnt seine Laufbahn als sozialistischer Redaktor in Luzern und St. Gallen, setzt sie beim Zürcher «Volksrecht» fort, wird nebenher Parteipräsident und Mitglied des Zürcher Gemeinderats, den er 1931/32 präsidiert. Die Zeitung verlässt er 1935, um in den Regierungsrat und 1941 als erster Sozialdemokrat in den Bundesrat einzuziehen.

Oder Ernest-Paul Graber, ab 1915 Redaktor der «Sentinelle» in La Chaux-de-Fonds, den seine Genossinnen und Genossen, als er 1917 wegen Beleidigung der Armee eingesperrt wird, mit Gewalt befreien, worauf die Armee La Chaux-de-Fonds besetzt: Graber sitzt von 1912 bis 1943 ebenfalls im Nationalrat, präsidiert dort sechs Jahre die Fraktion und ist 1929/30 sogar Nationalratspräsident; er arbeitet auch als Westschweizer Sekretär der Partei, schafft es allerdings nicht, in die Neuenburger Regierung gewählt zu werden. Sein Sohn Pierre Graber wird dafür 1970 Bundesrat. – Schliesslich die abweichende Biografie von Léon Nicole, Gründer und Redaktor des «Travail» in Genf, der mehrmals aus politischen Gründen eingesperrt wird und in den dreissiger Jahren im Nationalrat sowie im Genfer Regierungsrat sitzt. Nachdem er 1939 den Hitler-Stalin-Pakt begrüsst, wird Nicole zuerst aus der SP, dann als Kommunist aus dem Nationalrat ausgeschlossen. 1944 ist er der erste Präsident der neu gegründeten kommunistischen Partei der Arbeit.

Ernst Rodels Karriere bleibt lokal: In Biel ist er städtischer Parteipräsident. In Aarau, wo er sich mit dem Chefredaktor schlecht verträgt – man kommuniziert lange Zeit nur noch schriftlich –, ist er ebenfalls Parteipräsident und Grossrat. 1935 wechselt er zur «Thurgauer Arbeiterzeitung» in Arbon, bereits 1936 sitzt er im Kantonsparlament, er amtiert als Fraktionspräsident und während zwanzig Jahren als kantonaler Parteipräsident. Im «roten Arbon» leitet der Redaktor nebenamtlich das Bauamt; am Bodensee kann er einige der Grundsätze realisieren, die er in Biel gelernt hat und über die er in der Zeitung stets begeistert berichtet: Das gesamte Seeufer der Gemeinde wird Schritt für Schritt entprivatisiert und zum öffentlichen Park. Im Nationalrat ist Rodel von 1954 bis 1963 ein Hinterbänkler, der während der Sessionen auch Ratsberichte für diverse sozialistische Blätter verfasst.

In Aarau hatte der Redaktor einen Fall schwerer Repression und Sippenhaftung erlebt, er schrieb über die «Hungerlöhne» in der Strohflechtindustrie. Aus Rache entliessen die Fabrikanten seinen freisinnigen Vater und seinen Bruder; beide fanden im Kanton keine Stelle mehr. In Arbon sind es zuerst örtliche Nazianhänger und ab 1939 die Pressezensur der Armee, die dem nicht sehr militaristisch eingestellten, entschieden antifaschistischen Rodel Schwierigkeiten bereiten. Von der Armee wird er während des Zweiten Weltkriegs immer wieder verwarnt, sein Blatt fällt zeitweise unter militärische Vorzensur, es wird mehrmals beschlagnahmt, und 1940 erhält er wegen einer Glosse einen fünftägigen militärischen Arrest. Rodel hat inzwischen geheiratet, seine Frau, die später in Zürich als Rechtsanwältin praktiziert, redigiert das Blatt während seiner politisch bedingten Abwesenheiten. Seine zweite Frau, die er 1948 heiratet, ist jüdische Emigrantin mit kommunistischer Vergangenheit. Auch sie sitzt in der Redaktion, wenn er seinen politischen Ämtern nachgeht.

Immer noch werden linke Zeitungen zu einem grossen Teil mit Agenturmeldungen und Berichten anderer Blätter abgefüllt. Regelmässig geben die Grossen der Partei in langen Leitartikeln die ideologische Linie durch. Ein solcher Leitartikel kann durchaus auf der Frontseite oben links beginnen und auf der zweiten Seite irgendwo enden. Die Seiten sind Bleiwüsten, die wenigen Bilder schlecht gedruckt und ihr Inhalt fast nicht erkennbar. Erst mit der «Nation», einer von Gewerkschaften und Sozialdemokratie gegründeten antifaschistischen Wochenzeitung, die von 1933 bis 1952 erscheint, erhält auch die Sozialreportage in der linksgerichteten Presse der Schweiz einen festen Platz: mit Texten des später verfemten Peter Surava und meisterhaften Fotografien von Paul Senn.

Traum von einer neuen linken Zeitung

Regula Renschler lebt heute in Basel. Sie ist 86 Jahre alt und war ab 1962 eine der wenigen Journalistinnen in Zürich. 1967 veröffentlichte sie eine Dissertation, die für den vorliegenden Text als Quelle dient: «Die Linkspresse Zürichs im 19. Jahrhundert». Als Journalistin arbeitete Renschler für den «Tages-Anzeiger», das Fernsehen und die «Schweizer Illustrierte»; sie war ein Jahr in Afrika, reiste durch die USA, schrieb grosse Reportagen zum Frauenstimmrecht, zum Jurakonflikt oder zum Krieg zwischen Nigeria und Biafra. Im Juli 1969 ist sie hochschwanger, als man sie einlädt, Auslandredaktorin einer neuen linken Tageszeitung zu werden. Renschler sagt zu. Die Redaktion ist klein, im Auslandressort arbeiten zwei Leute, der Inlandredaktor ist zugleich Chefredaktor und ein vielversprechender SP-Politiker, er heisst Helmut Hubacher.

Das neue Blatt ist ein Zusammenschluss von sozialdemokratischen ArbeiterInnenzeitungen aus der deutschsprachigen Schweiz, von Arbon bis Wetzikon, von St. Gallen bis Olten und Basel. Die einzelnen Blätter erhalten von der in Zürich angesiedelten «AZ»-Zentralredaktion den sogenannten Mantel in Form von Druckplatten fertig geliefert, einen vorproduzierten Ausland-, Inland-, Kultur- und Sportteil, den sie mit ihrem Lokalteil ergänzen. Es ist nicht das erste Projekt einer linken Tageszeitung für die ganze Deutschschweiz und auch nicht das letzte. Jedoch tritt die «Berner Tagwacht» als grösste SP-Zeitung dem neuen Verbund gar nicht bei.

Noch während ihrer Schwangerschaft schreibt Renschler ein «Redaktionskonzept ‹AZ›», das übernommen wird. Darin heisst es: «Die ‹AZ› ist eine Tageszeitung der demokratischen Linken, sie verficht die Ziele des demokratischen Sozialismus. Sie steht der Sozialdemokratischen Partei und den Gewerkschaften nahe, ohne auf eine Parteilinie festgelegt zu sein.» Mit dem Blatt sollen über das SP-Publikum hinaus neue und jüngere LeserInnen gewonnen werden. Es soll eine Zeitung für Intellektuelle wie für ArbeiterInnen sein, und damit Einheit und Vielfalt sofort sichtbar werden, tragen alle Ausgaben im Zeitungskopf ein grosses rotes Feld mit den Buchstaben AZ: Aus dem «Volksrecht» wird die «Zürcher AZ», aus der «Volksstimme» in St. Gallen die «Ostschweizer AZ», aus der «Freien Innerschweiz» die «Zentralschweizer AZ». Die «Basler AZ» muss den Namen nicht ändern – allerdings schrieb sie das «AZ» auch längst nicht mehr als «Arbeiterzeitung» aus, sondern als «Abendzeitung». Am 5. Januar 1970 erscheint die erste Ausgabe der neuen Zeitung mit dem Titel «Die AZ grüsst ihre 200 000 Leser».

Eine linke Tageszeitung zu machen, sagt Renschler, sei ein grosser journalistischer Traum gewesen: von ihr und von ihrem Kollegen auf der Auslandredaktion, Paul L. Walser. Leider sei aus der Redaktion aber nie ein Team geworden. Es habe keine regelmässigen Redaktionskonferenzen gegeben und auch keine Blattkritiken. Chefredaktor und alleiniger Inlandredaktor Hubacher sei ein umgänglicher Mensch gewesen, aber als Politiker nur sporadisch im Haus. Auf Eisenbahnfahrten habe Hubacher viele Zeitungen gelesen und Ausschnitte herausgerissen, die er dann – wie in alten Zeiten – mit Zwischenbemerkungen versah und als Stehsatz produzieren liess. Bald habe der hubachersche Stehsatz alle Schubladen der Setzerei gefüllt. Wie er aus der Ferne den Inlandteil gemacht habe, sei ihr bis heute ein Rätsel. Auch mit den Lokalredaktionen habe es nie eine gemeinsame Sitzung oder ein Treffen gegeben, man habe diese Leute und ihre Bedürfnisse gar nicht gekannt.

Nach wenigen Wochen kommt es zum Eklat. Renschler veröffentlicht im Februar 1970 einen Kommentar zur israelischen Regierungspolitik, der sofort zu einer Flut von wütenden Leserbriefen führt: Renschler wolle die «AZ» in ein antisemitisches Hetzblatt umfunktionieren, schreibt die verdiente Gründerin des Arbeiterhilfswerks, Regina Kägi-Fuchsmann, und der sozialdemokratische Basler Regierungsrat Max Wullschleger lässt – nachdem Renschler ihre Haltung nicht ändert – in die Basler Ausgabe der «AZ» eine ganze Seite einrücken, in der er die Auslandredaktorin mit grotesken Behauptungen sowohl in die Nähe «pseudolinker» Revolutionäre als auch in jene des Nationalsozialismus rückt. Von unbekannter Seite wird ein Detektiv beauftragt, die Biografie der Journalistin zu durchwühlen und nach rechtsradikalen Tendenzen zu forschen. Der Bericht dieses Ermittlers, der sich der Journalistin zu erkennen gibt, liegt heute noch vor: Ihr werden «ein tadelloser Leumund», ein «vornehmer und edler Charakter» und auch sonst lauter schmeichelhafte Eigenschaften attestiert. Für den Auftraggeber war der Aufwand also vergeblich.

Die Redaktion steht hinter Renschler. Nicht diese Affäre ist entscheidend für ihren Abgang beim «AZ-Ring» nach eineinhalb Jahren, sondern die Aussichtslosigkeit des Projekts. Im Publikum zeigt sich eine kulturelle Kluft: Viele alte GenossInnen sind konservativ geworden und misstrauen den jungen Intellektuellen in der Redaktion, die ihrerseits mit alten, auf politischen Machterhalt fixierten Gewerkschaftern nicht allzu viel anfangen können. Hubacher, der Politiker, entspricht der traditionellen Vorstellung eines «AZ»-Redaktors eher, sogar wenn er abwesend ist. Als Renschler kündigt und ihre Enttäuschung über das Projekt in der linksbürgerlichen Basler «National-Zeitung» erörtert, stellt der Chefredaktor sie sofort frei.

Regula Renschler baut später die Erklärung von Bern mit auf – heute: Public Eye –, sie gründet die Fraueninformationsstelle FIZ, arbeitet als Radioredaktorin und Übersetzerin. Hubacher verlässt den «AZ-Ring» wenige Monate nach ihr, 1975 wird er Präsident der SPS. Der Verlagsleiter, ebenfalls SP-Nationalrat, wechselt zum Schweizer Fernsehen. Der Versuch einer Neulancierung der zentralisierten «AZ» endet 1973, nachdem die Genossenschaftsdruckerei Zürich den Geldhahn zugedreht hat. Die SP Zürich möchte sich nicht einmal an einer Spendenaktion beteiligen.

In den folgenden Jahren gehen die lokalen ArbeiterInnenzeitungen der Reihe nach ein. Die AbonnentInnen sterben aus, und für Inserate ist man zu wenig attraktiv. Nur zwei der vielen Organe überleben, die «Schaffhauser AZ», ab 1997 als Wochenzeitung, und in Zürich das «P.S.», aber als Neugründung. Linke junge AktivistInnen identifizieren sich seit den siebziger Jahren stärker mit selbstverwalteten Blättern, die jetzt überall entstehen: von der «Roten Anneliese» in Brig über «Viva» in Chur und «Tout va bien» in Genf zur «Alternative» in Uri. Oder mit neuen Medien wie Radio LoRa in Zürich und Radio RaBe in Bern. Die alten Arbeiterinnen und Arbeiter lesen lieber den «Blick». Eine kleine Gruppe, die die Verhältnisse sowohl bei den ArbeiterInnenzeitungen als auch bei den Alternativmedien gut studiert hat, gründet 1981 die WOZ.