Dossier Generalstreik: Die Schüsse von Grenchen
Am 14. November 1918 wurden in Grenchen drei Männer erschossen. Warum weiss man so wenig über sie? Wer erinnert sich?
Am Donnerstag dem 14. November 1918, nachmittags um 2 Uhr, also 12 Stunden nach dem Abbruch des Landesgeneralstreiks durch das Oltener Aktionskomitee, liegen mitten in Grenchen – in einer Seitengasse der Solothurnstrasse zwischen dem Restaurant Baumann und dem Schmiedeplatz – drei Leichen. An die Toten erinnert bis heute kein Denkmal, und auch sonst ist nicht viel über sie in Erfahrung zu bringen. Hermann Lanz, 29, Uhrmacher aus Grenchen, sei «ein stiller Bürger» gewesen, sagt der protestantische Pfarrer Ernst Hubacher in der am 16. November gehaltenen Grabrede. Der langjährige Bibliothekar des Grütli-Männerchores habe «den ganzen Vormittag daheim häusliche Arbeiten verrichtet und ist erst mittags ins Dorf gekommen». Über Marius Noirjean, 18 und ebenfalls Uhrmacher aus Grenchen, ist nichts weiter bekannt. Der 17-jährige Uhrenarbeiter Fritz Scholl sei nur zufällig in Grenchen gewesen, um Medikamente für seine grippekranke Mutter in Pieterlen zu kaufen, weiss die Arbeiterpresse zu berichten.
Die Tat
Eine richtige Autopsie der Leichen wird nie durchgeführt, aber die drei jungen Männer müssen, berücksichtigt man die örtlichen Verhältnisse und die verschiedenen Augenzeugenberichte, aus einer Distanz von wenigen Metern erschossen worden sein. Während ein vierter Mann namens Affolter einen Armdurchschuss erleidet, werden zwei der Toten gemäss Angaben des untersuchenden Arztes von hinten in den Kopf getroffen: der «durch einen Schuss von hinten verstümmelte Kopf» des Hermann Lanz bildet, wenigstens für Pfarrer Hubacher, «eine schwere Anklage».
Gegen die Täter wird nie formell Anklage erhoben. Nicht einmal die genaue Zahl der Tatbeteiligten steht fest. Der Kommandant des waadtländischen Füsilierbataillons 6, Major Henri Pelet, gibt der Militärjustiz noch am Abend des 14. Novembers seine Version des Tathergangs zu Protokoll: Zusammen mit lediglich drei Soldaten will der Major streikende ArbeiterInnen aus der Solothurnstrasse vertreiben. Vor dem Restaurant Baumann kommt es zu einer Stockung, und Pelet kommandiert, um den Leuten Beine zu machen: «Pour tirer, arme!». Als auch das nichts nützt, macht Pelet den nächsten Schritt: «Einen Schuss in die Luft abgeben zu lassen hielt ich nicht für zweckmässig, einmal weil dadurch Unschuldige, z.B. Leute in den Fenstern, gefährdet werden und sodann, weil das Schiessen in die Luft den Eindruck gemacht hätte, dass wir Angst haben.» Also befiehlt Pelet «Feu! … worauf die 3 Mann anlegten, d.h. es schossen nur 2 Mann, der 3. schoss nicht, warum weiss ich nicht».
So steht es in den Akten der Militärjustiz. Wie aber können zwei Karabinerkugeln drei Menschen töten und einen vierten schwer verletzen? Die Untersuchungsbehörden scheinen sich damals an diesem doch eher eigentümlichen Umstand nicht gestört zu haben. Die wenigen Historiker, die sich seither mit dem Vorfall befasst haben, übrigens auch nicht. So ist, wie manches mehr, ein viel plausiblerer Augenzeugenbericht, den die damalige Solothurner Arbeiterzeitung «Neue Freie Zeitung und Volkswacht am Jura» (NFZ) zwei Tage nach der Tat veröffentlichte, unbeachtet geblieben. Darin heisst es lakonisch: «Auf das Kommando "Feuern" schossen von sechs Soldaten des Bat. 6 (Waadtländer) fünf auf die Leute und einer (der Vernünftigere) in die Luft.»
Es liegen mir fünf einigermassen voneinander unabhängige Darstellungen der Grenchner Ereignisse vor: Die Publikationen von Werner Strub (im «Heimatbuch Grenchen», 1949) und Karl. H. Flatt (in seinem 1981 erschienenen Gedenkband «150 Jahre Solothurner Freisinn») stützen sich auf die – stellenweise lügenhafte – zeitgenössische Berichterstattung des «Grenchner Tagblattes», welches klassenkämpferisch die Position des Unternehmertums vertrat. Drei Beiträge werten vor allem einzelne Dossiers der militärischen Untersuchungsbehörden aus: die 1973 vom Bundesamt für Adjutantur, Abteilung Heer und Haus, herausgegebene Schrift «die Schweizer Armee im Ordnungsdienst 1856-1970»; ein kurzer, mit (leider nicht regelkonform ausgewiesenen) Lageeinschätzungen der NFZ angereicherter Artikel von Rolf Blaser im Grenchner Jahrbuch 1974; und schliesslich eine 1986 beim Zürcher Militärhistoriker Walter Schaufelberger verfasste Seminararbeit, die sich durch das vollständige Fehlen einer Quellenkritik sowie durch tendenziös-militärfreundliche Zwischenbemerkungen auszeichnet.
Nun kommen in der jüngeren Schweizer Geschichte nicht gerade viele von hinten erschossenen Arbeitersöhne vor. Umso erstaunlicher, dass der Grenchner Vorfall aus dem kollektiven Geschichtsbewusstsein unseres Landes beinahe spurlos verschwunden ist. Bevor ich Mutmassungen darüber anstelle, warum dem so ist, muss ich aber auf Vorgeschichte, Ablauf und Folgen der damaligen Ereignisse zurückkommen.
Der Streik
Bis kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges sind Grenchen und mit ihm der ganze Bezirk Leberberg eine dynamische Wirtschaftsregion mit starken sozialen Gegensätzen. Entsprechend kämpferisch verhält sich die ArbeiterInnenschaft: Nachdem die UhrenarbeiterInnen 1911 das Koalitionsrecht gegen die Leberberger Uhrenbarone durchsetzen, wächst die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder in Grenchen von 250 auf 2000 im Jahr 1914. In einzelnen Fabriken erreicht der Organisationsgrad neunzig Prozent. Zwischen der Jahrhundertwende und Kriegsausbruch gibt es in Grenchen 21 Streiks beziehungsweise Aussperrungen. Dabei legen viereinhalbtausend ArbeiterInnen die Arbeit während insgesamt 180'000 Arbeitstagen nieder – deutlich mehr als in allen anderen Gemeinden des Kantons Solothurn zusammen. Beim Maurerstreik im Herbst 1913 stellt die Kantonsregierung Armeeformationen in der Nähe von Grenchen auf Pikett, bei der grossen Aussperrung der Leberberger UhrenarbeiterInnen im Frühling 1914 setzt sie Soldaten für Bewachungsaufgaben ein.
Der Krieg trifft die Uhrenindustrie besonders hart, aber auch 1918 bietet diese Branche noch dem grössten Teil der 4500 Grenchner ArbeitnehmerInnen eine Beschäftigung. Die politische Dominanz der Sozialdemokraten ist drückend: Sie stellen den Gemeindeammann und 16 von 30 Gemeinderäten. Das Ende des Ersten Weltkrieges scheint die Grenchner Arbeiterschaft auch aus einer Phase der erzwungenen Passivität zu erlösen. Zum landesweiten Proteststreik vom 9. November 1918 schreibt das rechte «Grenchner Tagblatt»: «Samstag morgens war das Aussehen unserer Industrieortschaft ein gänzlich ungewohntes. Auf dem Postplatz und dessen Zugangsstrassen war eine grosse Ansammlung feiernder Arbeiter.»
Unter dem Druck der Zürcher Arbeiter-Union beschliesst das Oltener Aktionskomitee am Sonntag Abend (10. November) die Ausrufung des unbefristeten Generalstreiks auf die Nacht vom 11. zum 12. November. In Grenchen bildet sich eine Streikleitung aus Vertretern der lokalen Gewerkschaften und der SP. Zum Präsidenten wird Max Rüdt gewählt, Präsident der sozialdemokratischen Bezirkspartei, Präsident der Volksküchenkommission, Gemeinde-, Kantons- und Erziehungsrat. Der gebürtige St.Galler, zur Zeit des Generalstreiks 30jährig, war zuerst Typograf, studierte dann Philosophie und Kunstgeschichte, bevor er im Januar 1916 als mitverantwortlicher Redaktor und Grenchen-Korrespondent für die Neue Freie Zeitung (NFZ) zu arbeiten begann. Von Rüdt ist aus den Generalstreiktagen ein Foto erhalten geblieben. Es zeigt ihn, neben einem zweiten Streikposten und hinter einem Kalksteinquader postiert, ein Geleise am Nordbahnhof blockierend, den Blick fest auf den Horizont und eine bessere Zukunft gerichtet (siehe Titelfoto dieser Beilage). Mit seinem steifen Hut, Stehkragen, Schnurrbart und knielangem Cape sieht Rüdt allerdings nichts so aus, wie man sich Gramscis «organischen» Arbeiter-Intellektuellen vorstellt.
Der junge Rüdt schwärmt für den «idealen Sozialismus». Nach Grenchen ist er gekommen, so erklärt er den «Arbeiterinnen und Arbeitern» in seinem Antrittsartikel, «weil ich weiss, dass ich in Grenchen eine Bevölkerung vorfinde, die zu jedem Opfer bereit ist, wenn es gilt für das Wohl der Arbeiterschaft und des ganzen Volkes zu wirken und wir für die idealen, sozialen Güter, für Licht, Freiheit und Wahrheit einzustehen haben». Jetzt, im Generalstreik, ist die Stunde der Bewährung gekommen. Inwiefern Rüdt die verschiedenen militanten Aktionen die Streikenden organisiert, billigt oder bremst, ist nicht ganz klar. Rüdt hält mehrere Reden, in denen er zu Ordnung und Disziplin aufruft, er verurteilt öffentlich die Beschimpfung des Stationsvorstandes durch «einige unverantwortliche Elemente», und als bei einem Fabrikanten eine Scheibe in die Brüche geht, drückt er diesem persönlich sein «tiefstes Beileid über diesen Vorfall aus». Andererseits scheut der Streikleiter keineswegs die Konfrontation: Einzelne Streikbrecher werden in Grenchen aus den Fabriken geholt, Barrikaden blockieren die Geleise am Nord- und Südbahnhof, und dem Militär verweigert er die Benutzung der Volksküche.
Die Besetzung
Dessen ungeachtet verlaufen die ersten beiden Streiktage friedlich. Es gibt sogar eine Fotografie vom Bahnhofareal Grenchen-Süd, welche Streikende und Barrikadenbauer zu einem beinahe feierlichen Gruppenbild vereinigt. In den Landsturmkompanien III/25 und III/27, welche von der kantonalen Militärverwaltung zuerst für den Ordnungsdienst in Grenchen aufgeboten werden, leisten vor allem einheimische Soldaten – zu einem guten Teil selber Arbeiter – Dienst. Die Einheiten mobilisieren schleppend, die Offiziere beschäftigen sich vor allem mit der mangelnden Motivation und Disziplin der Truppe, und die Einheitskommandanten, die Hauptleute Hänggi und Schnider, reissen sich keineswegs um die Bürde des Platzkommandos. Von Beginn weg mischt sich zudem der ortsansässige Fabrikant und Infanterie-Oberst Emil Obrecht in die Organisation des Ordnungsdienst-Einsatzes ein, ohne allerdings die formale Verantwortung zu übernehmen.
Überhaupt nimmt der Militäreinsatz in Grenchen immer chaotischere Züge an. Am Mittwoch Nachmittag um 17.30 Uhr lässt das durchziehende Waadtländer Füsilierbataillon 6 einen Zug von 43 Soldaten und sechs Unteroffizieren unter dem Kommando von Leutnant Paul Bettex zurück zur Bewachung der lokalen Transformatorenstation. Am Donnerstag Morgen erscheint der Kommandant des Landsturmbataillons 27, Major Eugen Tatarinoff vorübergehend in Grenchen, um seinem Untergebenen Schnider das Platzkommando zu übergeben. Um 11 Uhr will Leutnant Bettex den Platz beim Nordbahnhof mit Waffengewalt räumen, doch Hauptmann Schnider verweigert ihm den gewünschten Befehl.
Mittags um 12 Uhr schickt der Solothurner Platzkommandant, Oberst Hirt, den Kommandanten des Waadtländer Bataillons – jenen Mann, der später den Schiessbefehl geben wird – in seinem Auto nach Grenchen. Gleichzeitig radelt ein Bote auf Geheiss von Max Rüdt nach Biel, um genauere Auskünfte über den angeblichen Streikabbruch einzuholen; einer entsprechenden Meldung in der im Verlaufe des Vormittags erschienenen Sonderausgabe des «Grenchner Tagblattes» mag die Streikleitung nicht unbesehen Glauben schenken. Major Pelet, der in Hirts Limousine den bevorstehenden Einsatz nochmals mit seinem Adjutanten Fréderic Ruedi bespricht, weiss zu diesem Zeitpunkt mit Sicherheit vom Streikabbruch durch das «Oltener Aktionskomitee» – immerhin kontrolliert die Armee die Telegrafen-Verbindungen.
Was sich in Grenchen nach dem Eintreffen Pelets am Donnerstag, dem 14. November 1918 um 13 Uhr abspielt, bezeichnet Pfarrer Hubacher in seiner Grabrede für Hermann Lanz als «gut organisierte Menschenjagd». Fast gleichzeitig wie Pelet erreicht der Major Peter Bürki – übrigens wie dieser mit einem Befehl zur Übernahme des Platzkommandos ausgestattet – mit 80 Berner Kavalleristen und 20 Mitrailleuren den Bahnhof-Nord; wenig später treffen zwei weitere Kavallerie-Schwadronen ein. Jetzt halten sich etwa 500 Soldaten in Grenchen auf.
Während Pelet am Bahnhofsplatz Maschinengewehre in Stellung bringen lässt, treibt Bürkis Kavallerie die etwa 200 Demonstrierenden auseinander. Pelet teilt darauf hin seinen Füsilierzug: Leutnant Bettex verfolgt die Flüchtenden mit 16 Mann entlang den Geleisen bis zur Unterführung Kirchstrasse. Dort lässt er eine Salve abfeuern. Zwei Arbeiter werden getroffen, der eine, Linus Kaufmann erleidet einen Lungendurchschuss. Major Pelet, der die Streikenden mit einer zweiten Füsilierabteilung die Kirchstrasse hinunter bis zum Postplatz und dann durch die Solothurnstrasse verfolgt, ist zum Zeitpunkt seines eingangs diskutierten Schiessbefehls über diesen ersten Vorfall informiert. Pelet weist die Polizei an, die drei Toten zu bergen. Ohne sich weiter bei den Opfern aufzuhalten, stürmt der Major mit seinen Leuten vorwärts. Im Verlaufe des Nachmittags und Abends verhaftet die Armee in Grenchen ein Dutzend Zivilisten.
Die diktatorische Gewalt
Ob bewusste Strafaktion nach dem Scheitern des Generalstreiks, ob kollektiver militärischer Amoklauf oder Geltungssucht einzelner Offiziere: Die intellektuelle Autorenschaft für das militärisch sinnlose Massaker von Grenchen darf jedenfalls die damalige Armeeführung unter General Wille und Generalstabschef Sprecher für sich beanspruchen. So heisst es in einer am 1. November 1918 an die Stabschefs der Divisionen und Armeekorps verteilten Ordnungsdienst-Instruktion für alle Truppenkommandanten: «Erforderlich ist daher, dass ein jeder an seinem Platz aus eigener Initiative und mit aller Energie handelt. Die Kommandanten üben diktatorische Gewalt aus; sie sind zu allen Massnahmen berechtigt, die sie für die Erreichung des Zweckes für erforderlich halten.»
Nicht nur die Provokation des Generalstreiks durch die militärische Besetzung Zürichs Anfang November 1918, sondern auch die Grenchner Vorfälle nach Beendigung des Generalstreiks können als sichtbare Höhepunkte eines jahrelangen Machtkampfes zwischen Armeespitze, Bundesrat, Kantonen und Bürgerwehren verstanden werden. Dabei ging es im Kern um die Frage, ob der Klassenkampf von oben besser im Rahmen des parlamentarischen Rechtsstaates oder mit den Mitteln eines autoritären Vollmachten-Regimes zu führen sei. Der verstärkte politische Druck der Armeeführung nach dem Ende des Generalstreiks verzögerte nicht nur das Ende des Aktivdienstzustandes bis Ende 1920. Auch die Vollmachten der Armeeführung für eine von zivilen Instanzen unabhängige Aufstandsbekämpfung wurden bis Mitte der zwanziger Jahre mit geheimen Bundesratsbeschlüssen und geheimen Armeebefehlen sukzessive ausgebaut.
Die Reaktion
Einige Tage nach Streikabbruch schreibt Rüdt – er ist vorübergehend untergetaucht und wird polizeilich gesucht – in einem offenen Brief «aus dem Exil» u. a. folgendes: «Herr Hugi (ein freisinniger Gemeinderatskollege; ha.) mag so gut sein und in Solothurn das Schreiben an die kantonale Regierung, angefertigt von der «Soviet-Regierung» Grenchen, sich ansehen. Wenn ein solches Schreiben dort liegt, dann hat er recht; da aber ein solches nicht existiert, lügt Herr Hugi wie gedruckt.» Mit der Wahrheit hapert es in diesen Tagen. Seine politischen Gegner haben in den bürgerlichen Blättern längst eine Hetzkampagne gegen den «tollen Rüdt» gestartet. Vor Gericht sagt der christ-katholische Pfarrer Keussen aus, er sei unter Druck gesetzt worden, Rüdt in wahrheitswidriger Weise zu belasten. Das Amtsgericht Solothurn-Lebern verurteilt Rüdt dennoch «wegen unbefugter Ausübung eines öffentlichen Amtes und Anstiftung zur Sachbeschädigung» zu vier Wochen Gefängnis ohne Anrechnung der Untersuchungshaft. Zehn weitere Grenchner werden mit Bussen oder Haft belegt. Die verantwortlichen Offiziere und Schützen hingegen werden gedeckt.
Die bürgerliche Reaktion formiert sich auf allen Ebenen. Wie überall werden auch in Grenchen Arbeiter aus politischen Gründen entlassen. Im März 1919 schlägt ein freisinniger Gemeinderat und Bürgerwehrler Max Rüdt auf offener Strasse nieder. Eine Sympathiedemonstration von zweitausend Menschen vor Rütdts Wohnung ist die Folge.
Um so tragischer daher, wie Rüdt am 4. September 1919 aus der «Neuen Freien Zeitung» rausgeschmissen wird: Sein mitverantwortlicher Redaktor, der Oltener Nationalrat Jacques Schmid, wirft ihm in einem Artikel unkorrekte Buchführung und – implizit – die Unterschlagung von Parteigeldern vor. Rüdt sei eine «Eiterbeule …, die schon längst hätte entfernt werden sollen am Körper der leberbergischen Arbeiterbewegung». Dahinter steht eine harte politische Auseinandersetzung zwischen den linken Grenchner Genossen – sie hatten schon 1917 gegen den heftigen Widerstand von Jacques Schmid für die Ablehnung der Landesverteidigung plädiert – und der Kantonalpartei. Der gehässige Streit um den eventuellen Beitritt der SP zur Dritten Internationale, bei dem sich die befürwortenden Grenchner wiederum in scharfem Gegensatz zu Schmid befinden, führt am Vortag der Urabstimmung vom 5. September zum Eklat. Rüdt muss über die Klinge springen. Er zieht sich enttäuscht nach St. Gallen zurück.
… und nicht vergessen!
Aber auch die Opfer des Grenchner Generalstreiks werden ein zweites Mal dafür bestraft, dass sie sich, historisch gesehen, zur falschen Zeit am falschen Ort aufgehalten haben. Schmids formuliert schon unmittelbar nach dem Streikabbruch den Vorwurf, es habe «vielfach den Anschein erweckt, als ob die Ziele des Generalstreiks falsch verstanden und sofort als Generalrevolution umgesetzt worden» seien. Im Verlaufe der innerparteilichen Auseinandersetzungen um die künftige Parteilinie scheint die Parteiführung zur Meinung gekommen zu sein, die radikaleren Grenchner Genossen hätten das ganze November-Schlamassel irgendwie selbst zu verantworten. Wieso auch hatten sie den Arbeitskampf nicht wie die Oltener unter Schmids Leitung «mit der grössten Ruhe und Disziplin» beziehungsweise «mit Bravour» und einer «würdigen» Abschlussversammlung hinter sich gebracht? Oder wie sagt Schmid in seiner Abrechnung mit dem Redaktionskollegen: Eine «Sauordnung herrscht überall, wo Rüdt seine Hände hineinlegte».
Eine rechte Sauordnung war das an diesem November-Nachmittag vor dem Restaurant Baumann in Grenchen. «Teile vom Kopfe und grosse Blutlachen waren noch gestern gut sichtbar», schreibt die NFZ zwei Tage später. Angerichtet hat's die Armee. Geekelt haben sich führende Genossen.
Genau ein Jahr nach Beendigung des Streiks lehnte der Bundesrat alle Entschädigungsforderungen der Hinterbliebenen und der Verletzten ab. Ein innerparteilicher Machtkampf in der Grenchner Sozialdemokratie hat danach sogar die Erinnerung an die Ermordung von Hermann Lanz, Marius Noirjean und Fritz Scholl verhindert.