Agnès Varda: Warten auf Godard

Nr. 20 –

Am 30. Mai wird Agnès Varda neunzig, das Zürcher Filmpodium feiert die Filmemacherin jetzt schon mit einer grossen Retrospektive.

Auf der Suche nach Menschen und Geschichten: Agnès Varda und der Strassenkünstler JR in «Vi­sages Vil­lages». Still: Agora Films

«Meine Sicht ist schlecht, aber ich habe immer eine Vision», sagt Agnès Varda in ihrem neuen Film «Visages Villages» einmal. Die 88-Jährige spielt damit auf ihre Makuladegeneration an, die sie im Film dann auch gleich erfahrbar macht: Auf einer Treppe im Freien stehen Leute, die riesige Buchstaben hochhalten – ein Sehtest in Weltformat.

Die Leidenschaft für die Fotografie hat Varda mit dem 33-jährigen Strassenkünstler JR zusammengebracht. Mit dessen Fotomobil, einem fahrbaren Fotostudio mit eingebautem Printer, der die Bilder in Plakatformat ausdruckt, touren die beiden in «Visages Villages» durch Frankreich und suchen Menschen und Geschichten auf. Etwa die Frau, die sich weigert, aus einer längst verlassenen Minenarbeitersiedlung im Pas-de-Calais auszuziehen. Varda und JR tapezieren die trostlose Siedlung dann mit dem meterhohen Konterfei der betagten Hausbesetzerin sowie mit Bildern aus deren Fotoalbum. Erinnerungen werden in diesem verspielten Roadmovie gegenwärtig, die Vergänglichkeit lustvoll inszeniert.

Tabubrechende Erzählerin

Mit ihrem Werk steht Agnès Varda immer noch quer in der französischen Kulturlandschaft. Mit grosser Ausdauer hat die eigensinnige kleine Dame mit der zweifarbigen Frisur über vierzig Spiel-, Dokumentar- und Essayfilme realisiert. Seit ein paar Jahren wird sie mit Ehrungen überhäuft: 2014 in Locarno, 2015 in Cannes, 2017 hat ihr Angelina Jolie dann einen Oscar überreicht. Alles Preise, die ihr zwar späte Ehre, aber kein Geld brächten, wie sie in ihrer lustvoll ausschweifenden Dankesrede in perfektem Englisch bemerkte. Denn finanziell gesehen, war ihre Karriere ein äusserst steiniger Weg. Immer wieder gab es lange Durststrecken, die sie mit Auftragsfilmen bestreiten musste. Nur gerade ihr 1987 in Venedig mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnetes Roadmovie «Sans Toit ni Loi» mit Sandrine Bonnaire brachte es auf über eine Million Kinoeintritte.

Das bescheidene Budget ihres ersten Films, «La Pointe courte» (1954), hatte die damals 25-Jährige noch mit einer kleinen Erbschaft ihres Vaters und einem Darlehen ihrer Mutter bestritten. Möglich wurde der Film auch dank des Honorarverzichts der Equipe: So soll sich Alain Resnais für die Arbeit am Schnitt mit einem täglichen Mittagessen begnügt haben. Resnais war nicht nur als Cutter ein wichtiger Mentor: Er war es, der Varda die einschlägigen Pariser Kinos und die Cinémathèque zeigte. Anders als ihre Kollegen der Nouvelle Vague war Varda nicht cinephil, kannte nur einige wenige Filme.

Eine Intellektuelle war sie nie, obwohl sie an der Pariser Sorbonne Kunstgeschichte, Philosophie und Literatur studiert hatte. Bereits während des Studiums arbeitete sie als Porträtfotografin. «La Pointe courte», inspiriert von William Faulkners Südstaatenroman «The Wild Palms», drehte sie dann in der Nähe des südfranzösischen Sète, wo sie während des Kriegs aufgewachsen war. Silvia Monfort und der junge Philippe Noiret spielen darin ein verheiratetes Paar, das in gestelzten Sätzen über seine Ehekrise sinniert, während Fischer ihre Netze flicken. Mit ihrer neuartigen und tabubrechenden Erzählweise wirft Varda einen ernüchternden Blick auf die fünfziger Jahre und nimmt wesentliche Elemente des «neuen» französischen Kinos vorweg. Der Kritiker André Bazin sieht in «La Pointe courte» gar den ersten Film der Nouvelle Vague.

Wem gehört der Blick?

Vardas zweiter Spielfilm, «Cléo de 5 à 7» (1962), erzählt dann genau neunzig Minuten in Echtzeit aus dem Leben einer Sängerin, die auf ihre Krebsdiagnose wartet. Im ersten Teil wird die hübsche Blondine (Corinne Marchand) inszeniert wie eine Puppe: Kapriziös, dümmlich und hilflos, weint sie sich am Busen ihrer Begleiterin aus. Dann wechselt die Perspektive: Cléo begibt sich auf eine Tour durch Paris, trifft zufällig eine Freundin, die sie in die Vorführkabine eines Kinos führt, wo die beiden Frauen durch das Guckloch eine Slapsticksequenz der besonderen Art erspähen: Anna Karina und Jean-Luc Godard in bester Buster-Keaton-Imitation, in einem fünfminütigen Film im Film.

Die Burleske unterläuft das etwas schwerfällig anmutende Melodrama, denn unser Blick fällt jetzt unvermittelt auf das schöne Antlitz von Godard, der seine Augen sonst gerne hinter dunklen Gläsern versteckt; das Gesicht von Godard als begehrtes Objekt. Wem gehört der Blick? Das war eine zentrale Frage der frühen feministischen Filmtheorie. Auf humorvolle Weise scheint sich Varda mit formalem Raffinement darauf zu beziehen, obwohl sie sich erst viel später und nur sehr bedingt feministisch äussern wird.

Am Grab von Henri Cartier-Bresson

«Hast du Angst vor dem Sterben?», fragt nun JR, als er in «Visages Villages» mit Agnès Varda am Grab des Fotografen Henri Cartier-Bresson steht. «Bis jetzt nicht, kann noch kommen», gibt diese heiter preis. Und bittet JR, der partout nichts aus seinem Leben erzählen will, einmal mehr, er möge endlich seine Sonnenbrille abnehmen. Den Wunsch erfüllt er ihr erst in der letzten Sequenz. Da sitzen sie, nachdem sie von Jean-Luc Godard versetzt wurden, auf einer Bank am Genfersee. Um die sichtlich enttäuschte Varda zu trösten, nimmt JR endlich seine Sonnenbrille ab. Und sie macht ein Bild von ihm: Es ist verschwommen.

Das Filmpodium in Zürich zeigt bis zum 30. Juni 2018 eine Retrospektive zu Ehren von Agnès Varda. «Visages Villages» startet am 31. Mai 2018 im Kino.