Kommentar zu Bundesrat Cassis: Solist und Maulheld

Nr. 25 –

Der Amtsführung von Ignazio Cassis scheint eine Mischung aus Ungeschick und Überzeugung zugrunde zu liegen.

Vor fast einem Jahr sass Ignazio Cassis auf einer Terrasse mit Blick über den Luganersee und erzählte der WOZ von seinem Weg nach oben: davon, wie er als Medizinstudent gelernt habe, sich den immensen Lernstoff einzuverleiben. Cassis sagte damals, er gehe seit seiner Studienzeit alle neuen Aufgaben mit derselben Methode, demselben Fleiss an. Er trat schon als Bundesratskandidat so auf, wie ihn heute alle beschreiben: sehr freundlich, aber wenig inspirierend. Ein Beamtentyp, der sich mit viel Eifer und einigem Opportunismus zum Kronfavoriten der Wirtschaftspartei gemausert hatte (siehe WOZ Nr. 31/2017 ).

Heute kann man sagen: Ignazio Cassis wäre besser geblieben, was er war, bevor es ihn zum Aussenminister hochspülte: ein netter Tessiner Kantonsarzt.

Erst seit wenigen Monaten ist der FDPler im Amt, und schon liefert er mehr Gesprächsstoff als alle seine BundesratskollegInnen zusammen. Angefangen hat die Misere mit Cassis’ äusserst ungeschicktem Beitritt zur Schweizer Waffenlobbyorganisation Pro Tell kurz vor seinem Amtsantritt, den er nach Protesten wieder rückgängig machte. In den letzten Wochen folgte eine Kaskade fragwürdiger Handlungen: Erst musste der Restbundesrat Cassis nach seiner eigenmächtigen Kritik am Uno-Hilfswerk für Palästinaflüchtlinge (UNRWA) zurückpfeifen und klarstellen, dass sich die offizielle Linie der Schweiz im Nahostkonflikt nicht geändert habe.

Es folgte das viel zitierte Radiointerview zu den Verhandlungen über ein Rahmenabkommen mit der EU, in dem Aussenminister Cassis mit einem Satz die flankierenden Massnahmen als rote Linie der Schweiz preisgab. Auch hier krebste er später wieder zurück, doch dieser Wankelmut macht die Sache keinesfalls besser.

Die Frage, die sich nach den Aussetzern des Neubundesrats stellt, lautet: Passiert ihm das alles aus blossem Ungeschick – oder handelt er aus Überzeugung? Es drängt sich der Verdacht auf, dass die Amtsführung des Tessiners eine Mischung aus beidem ist. Cassis sei einfach eine etwas wankelmütige Marionette der Rechten, ist in diesen Tagen oft zu lesen. Bei dieser Analyse aber geht vergessen, dass viele seiner Entscheide durchaus seinen Überzeugungen entspringen: Die Stellungnahme zum UNRWA etwa ist kein reiner Lapsus: Cassis engagierte sich bereits als Parlamentarier in der israelfreundlichen (und palästinafeindlichen) Gruppe Schweiz-Israel.

Auch der Entscheid, der in den letzten Tagen bei weiten Kreisen am meisten Empörung ausgelöst hat, braucht einen nicht zu wundern: Bereits vor seinem Amtsantritt war klar, dass Cassis rüstungsfreundlicher auftreten würde als sein Amtsvorgänger Didier Burkhalter. Dank Cassis’ Wahl in den Bundesrat kann die Waffenlobby ihre Interessen im Bundesrat nun locker durchsetzen. Doch zu Cassis’ fragwürdigen politischen Haltungen kommt ein weiteres, noch grösseres Problem: Der Aussenminister scheint nicht fit für sein Amt. Als Aussenminister muss Ignazio Cassis für den Gesamtbundesrat sprechen. Er sollte mit diplomatischem Geschick für die Positionen der Schweiz eintreten. Doch er macht das Gegenteil: Der Tessiner denkt mit dem Mund, stiftet mit seinen Sololäufen Verwirrung und gefährdet so die aussenpolitische Glaubwürdigkeit der Schweiz. Cassis’ Vorgänger war kein Linker. Doch immerhin lebte Burkhalter die Tradition einer offensiv interpretierten Neutralitätsrolle – die der Schweiz in Konflikten eine gewisse Verhandlungsmacht gibt.

Cassis setzt diese Rolle fahrlässig aufs Spiel. Und er tut dies fast schon in trumpscher Manier. Jedenfalls lassen seine Tendenzen, die Diplomatie weniger als ernst zu nehmendes Fach denn als Bühne für spontane, jederzeit umkehrbare Einfälle zu verstehen, diesen Vergleich zu. Und das sollte einem wohl für die kommenden Jahre mit dem Tessiner Arzt im Aussendepartement am meisten Sorgen bereiten.