Lebensmittelverschwendung: Zu dicke Portemonnaies

Nr. 28 –

Wer ist schuld, wenn dreissig Tonnen Tomaten weggeworfen werden? Die Bäuerin? Migros und Coop? An der Verschwendung von Nahrungsmitteln sind viele beteiligt. Der grösste Teil von Food Waste entsteht allerdings in den privaten Haushalten.

Vor der Biogasanlange gerettet und verspeist: Die Grassrooted-Tomatenaktion Ende Juni unter der Zürcher Hardbrücke.

Der Mann, der auf der Strasse steht und wütend mit den Armen gestikuliert, trägt ein rotes T-Shirt. Es hat dieselbe Farbe wie das Fruchtgemüse, das hinter seinem Rücken in grünen, aufeinandergestapelten Kisten liegt. Es sind Biotomaten. Hunderte, Tausende – insgesamt zwanzig Tonnen. Sie alle sollen heute vor einem traurigen Ende gerettet werden: vor der Biogasanlage. Schuld daran ist aber nicht etwa mangelnde Qualität: Wegen des guten Wetters sind sie zu schnell gewachsen. In der Folge kam es zu Lagerschwierigkeiten. Die Konsequenz: Die Tomaten würden zu schnell verderben, um noch für die Verkaufsregale der Grossverteiler Migros und Coop geeignet zu sein. «Unglaublich», tönt es unter der Zürcher Hardbrücke bei den Tomatenkisten deshalb von allen Seiten. «Food Waste der schlimmsten Art.»

Weniger als ein Promille

Nur zwei Tage zuvor hat der junge Verein Grassrooted über die sozialen Medien den Aufruf zur Tomatenrettungsaktion in Zürich und Bern gestartet. Die Organisation wurde vorab vom Tomatenproduzenten, einem der grössten Biolandwirtschaftsbetriebe der Schweiz, kontaktiert. «Die Resonanz auf unseren Appell war riesig», sagt Martin Schiller, einer der drei GründerInnen des Vereins. Tatsächlich stehen bereits vor dem eigentlichen Aktionsstart erste KäuferInnen bereit. Von fleissigen Händen werden die Tomaten bald in Säcken, Kisten und Körben auf Gepäckträger oder in die Kofferräume von Autos geladen, die dem aufgebrachten Lastwagenfahrer im roten T-Shirt nun die Zufahrt versperren.

Food Waste, die Verschwendung von Nahrungsmitteln, ist nicht nur in der Schweiz ein Problem. Gemäss Schätzungen der Food and Agriculture Organization (FAO) der Vereinten Nationen geht rund ein Drittel der weltweit produzierten Lebensmittel auf verschiedenen Wegen verloren. Für die Schweiz geht man von etwa derselben Grössenordnung aus. Das entspricht einer Menge von mehr als zwei Millionen Tonnen pro Jahr. Die überschüssigen Tomaten stellen davon weit weniger als ein Promille dar. «Die Aktion ist symbolisch zu verstehen», sagt Martin Schiller. Natürlich sei es toll, dass die Tomaten nun nicht in der Biogasanlage landeten. «Das eigentliche Problem wird damit aber nicht gelöst.»

«Dass Gemüse entsorgt wird, passiert ständig», sagt auch Michael Bergöö, Leiter Programm Schweiz bei der Stiftung Biovision. Ein nicht unbeträchtlicher Teil der Nahrungsmittel bleibe auf den Feldern liegen, ein anderer grosser Teil werde in der Produktion oder beim Transport aussortiert. Zum einen, weil das Gemüse nicht den gängigen Normen entspreche oder verloren gehe, zum anderen, weil der Bedarf bei den Grossverteilern bereits gedeckt sei. Eine Gurke, die zu krumm ist, erscheint nicht in der Gemüseauslage von Coop – ausser in den «Ünique»-Regalen vereinzelter Filialen.

Die Schuld daran lässt sich aber nicht allein den GemüsebäuerInnen in die Schuhe schieben. «Die Landwirtschaftsbetriebe befinden sich in einem ungemütlichen Clinch zwischen der Politik und den Grossverteilern», so Bergöö. Von politischer Seite würden sie mit stets neuen Regulierungen konfrontiert. Auf der anderen Seite diktierten ihnen die grossen Detailhändler wie Migros und Coop mit Verweis auf die Bedürfnisse ihrer Kundschaft, wann und wie viel produziert werden müsse. Betroffen von diesen Vorgaben sind vor allem die grossen Produzenten. Der Verein Grassrooted hat verschiedene Landwirtschaftsbetriebe kontaktiert und sie nach ihrem Food Waste befragt. Das Ergebnis: Während kleinere Betriebe gemäss eigenen Angaben kaum auf ihren Erzeugnissen sitzen bleiben, haben die Grossproduzenten, die in viel grösseren Mengen und meist nur für die grossen Detailhändler anbauen, mit teils beträchtlichen Abfallmengen zu kämpfen.

Zu überschüssigen Tomaten in dieser Grössenordnung komme es aber nicht oft, sagt Suzanne Schnieper, Fachspezialistin für Gemüse und Beeren am Landwirtschaftlichen Zentrum Liebegg. «Die Tomaten, die in Gewächshäusern gezogen werden, kann man etwa im Gegensatz zu Freilandgemüse relativ gut steuern.» In diesem Jahr habe das sehr warme Klima das Reifen der Tomaten wohl aber beschleunigt. Zudem müsse die Menge relativiert werden, sagt die Agronomin: «Das einmalige Wegwerfen von dreissig Tonnen klingt natürlich spektakulärer, als wenn der Konsument zu Hause jeden Monat ein Kilo Tomaten wegwirft.» Genau dort, also bei den EndkonsumentInnen, liegt aber das eigentliche Problem. Tatsächlich belegen Studien des Bundesamts für Umwelt (Bafu), dass rund 45 Prozent des eigentlich noch brauchbaren Lebensmittelabfalls in den privaten Haushalten anfällt.

Wegwerfen schmerzt zu wenig

Food Waste steht dabei nicht erst seit heute auf der Agenda von AkteurInnen aus Politik und Wirtschaft. Die Uno fordert mit der Agenda 2030 von ihren Mitgliedern etwa, die Menge unnötig entsorgter Lebensmittel in den nächsten zwölf Jahren zu halbieren. Auch die Schweiz hat sich dazu verpflichtet. Bedauerlicherweise hat Bundesrat Ignazio Cassis im erst kürzlich erschienenen Länderbericht, einer Bestandsaufnahme zur nachhaltigen Entwicklung der Schweiz, nicht nur im Bereich Food Waste einschneidende Streichungen vorgenommen. Der Bericht wird in wenigen Tagen in New York vor der Uno präsentiert.

Aber auch in der Privatwirtschaft sei in den letzten drei, vier Jahren einiges passiert, sagt Michael Bergöö von Biovision. Das sei nicht erstaunlich, seien doch weggeworfene Nahrungsmittel ein Verlustgeschäft. Problematischer sei es bei den privaten Haushalten. «Das grosse Problem sind die Nahrungsmittelpreise», meint der Experte. «Sie machen gemessen an den gesamten Schweizer Haushaltsausgaben nur einen sehr geringen Anteil aus.» Tatsächlich ist die Schweiz im internationalen Vergleich Spitzenreiterin. Altes Brot oder überreife Früchte wegzuwerfen, schmerze die Leute entsprechend wenig. Sprich: Die Nahrungsmittel sind eigentlich zu billig.

Mit den vergleichsweise tiefen Preisen gehe leider auch ein Verlust an Wertschätzung für die Lebensmittel einher, sagt Bergöö. Das Problem: Die Folgekosten für die Umwelt und die Gesellschaft – wie etwa ausbeuterische Arbeitsbedingungen, ökologisch entwertete Böden oder übermässiger Wasserverbrauch – sind nicht eingepreist. Ein möglicher Lösungsweg? Das Wahre-Kosten-Prinzip, sagt Bergöö. Darin würden die Folgekosten in den Verkaufspreis integriert und somit nachhaltig produzierte Lebensmittel gegenüber umweltschädlichen Produkten nicht länger benachteiligt. Zudem gehe es auch darum, bei der Sensibilisierung der KonsumentInnen anzusetzen, sagt Bergöö.

Das wiederum ist ein langwieriges Unterfangen. Und so endet noch immer ein bedeutender Teil unserer Nahrungsmittel im Abfall. Oder im etwas besseren, wenn auch energetisch wenig effizienten Fall: in der Biogasanlage.