EU-Rahmenabkommen: «Der Schweizer Lohnschutz ist ein Vorbild für Europa»

Nr. 33 –

Nach dem Ausstieg der Schweizer Gewerkschaften aus den Verhandlungen mit dem Bundesrat über die flankierenden Massnahmen: Luca Visentini, Generalsekretär des Europäischen Gewerkschaftsbunds, stärkt ihnen den Rücken.

WOZ: Herr Visentini, Sie haben der EU-Kommission Anfang Juli einen Brief geschrieben, um die Schweizer Gewerkschaften in ihrem Kampf zugunsten der flankierenden Massnahmen gegen die EU zu unterstützen. Warum?
Luca Visentini: Der Schweizerische Gewerkschaftsbund und Travail Suisse haben uns informiert, dass sich die EU-Kommission in den Verhandlungen über ein neues Rahmenabkommen gegen die flankierenden Massnahmen stellt, die Arbeiter vor Lohndumping und Missbrauch schützen. Darum haben wir interveniert – um den Versuch zu stoppen, die Rechte der Arbeiter zu untergraben.

Warum interessieren Sie sich für die kleine Schweiz, die nicht EU-Mitglied ist?
Was hier passiert, ist Teil eines grösseren Bildes. Wir wollen, dass innerhalb der EU – aber auch in Ländern wie der Schweiz, die durch spezielle Abkommen mit der EU verbunden sind – die Arbeiterrechte überall im gleichen Mass geschützt sind. Das ist essenziell. Wenn nun der Lohnschutz in der Schweiz durch einen neuen Vertrag mit der EU untergraben wird, könnte das den Schutz auch in anderen Ländern schwächen. Wir haben es kürzlich geschafft, in der EU die Entsenderichtlinie zu stärken: Sie soll das Prinzip «Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort» sicherstellen. Falls die flankierenden Massnahmen geschwächt würden, würde dies unsere jüngsten Erfolge unterlaufen. Wir führen also einen gesamteuropäischen Kampf.

Seit die Gewerkschaften letzte Woche verkündet haben, nicht mit dem Bundesrat über Änderungen der flankierenden Massnahmen verhandeln zu wollen, kritisieren manche, sie seien antieuropäisch …
Es ist exakt das Gegenteil! Im Kampf, den die Schweizer Gewerkschaften führen, geht es um die Verteidigung der europäischen Werte. Die EU fusst auf der sozialen Marktwirtschaft. Diese umfasst neben dem Binnenmarkt auch das europäische Sozialmodell, den Schutz der Arbeitsrechte, Löhne und Arbeitsbedingungen. Wer die flankierenden Massnahmen verteidigt, verteidigt das europäische Modell. Das Problem ist, dass leider nicht alle in der EU-Kommission die europäischen Werte gleich stark verteidigen.

Welches sind die Kräfte, die nebst den Gewerkschaften den Ausbau eines sozialen Europa innerhalb der EU vorantreiben?
Es ist vor allem das Führungspersonal der europäischen Institutionen, insbesondere EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker. Seit drei Jahren sagt er klar, dass es ein Europa brauche, das beschütze. Das gilt auch für Arbeitskräfte – vor Ausbeutung, Dumping und Missbrauch. Neben der Stärkung der Entsenderichtlinie hat sich die EU letzten Herbst für eine soziale Säule zur Stärkung sozialer Rechte ausgesprochen. Derzeit befinden sich Gesetze zur Stärkung der Arbeiterrechte in Arbeit. Vor fünf Jahren herrschte in der EU der Glaube an die Austerität – Arbeitsrechte wurden als Hindernis für den wirtschaftlichen Wiederaufschwung angesehen. Diese Ideologie hat sich stark abgeschwächt. Das Prinzip des sozialen Schutzes ist zurück. Darum sind wir guter Dinge, dass die EU-Kommission unsere Intervention für die flankierenden Massnahmen berücksichtigen wird.

Steckt hier auch der französische Präsident Emmanuel Macron dahinter, der mit dem Versprechen eines sozialeren Europa angetreten ist?
Wir sind lange nicht mit allem einverstanden, was Macron macht. Unsere Gewerkschaften in Frankreich haben grosse Konflikte mit ihm. Aber wenn es etwa um den Kampf gegen Lohn- und Sozialdumping innerhalb Europas oder um die Stärkung von Mindestlöhnen geht, haben wir gute Gespräche mit ihm. Frankreich hat auch eine sehr positive Rolle bei der Stärkung der Entsenderichtlinie gespielt. Hier haben wir in Emmanuel Macron einen Alliierten.

Es scheint einen französischen und einen europäischen Macron zu geben: Im Inland dereguliert er den Arbeitsmarkt und senkt die Steuern für Reiche, auf europäischer Ebene will er mehr Sozialstaat.
Ja, das gilt aber auch etwa für Deutschland. Der Koalitionsvertrag zwischen Christdemokraten und SPD ist auf der europäischen Ebene progressiv und auf nationaler Ebene konservativ.

Wie erklären Sie sich den Wiederaufschwung sozialer Ideen? Haben die EU-Führungskräfte seit dem Brexit Angst, dass weitere Länder folgen?
Der Brexit ist sicher ein Teil der Erklärung. Ein weiterer Faktor ist, dass seit der Wirtschaftskrise die Arbeitslosigkeit nicht stark genug gesunken ist und dass die Lohnentwicklung schwach ist. Das hat Populismus, Xenophobie und antieuropäische Gefühle geschürt und den Aufschwung entsprechender Parteien in verschiedenen Ländern ermöglicht. Die europäischen Führungskräfte realisieren, dass der Neoliberalismus und die Austerität letztendlich das europäische Projekt in Gefahr bringen. Zudem verlieren die traditionellen europäischen Parteien innerhalb der europäischen Arena an Gewicht, sie fürchten sich vor den Resultaten der europäischen Wahlen nächsten Frühling.

Welche Rolle spielt der Europäische Gerichtshof? Die Schweizer Gewerkschaften wehren sich dagegen, dass die flankierenden Massnahmen von Schweizer Recht zu Vertragsrecht gemacht werden, da dann der Gerichtshof über deren Auslegung entscheiden könnte.
Der Gerichtshof hat sich in zahlreichen Urteilen komplett gegen den Arbeiterschutz gestellt. In jüngster Zeit hat er jedoch wiederholt zugunsten der Arbeiter entschieden.

Gegenüber der Schweiz tritt die EU in sozialen Fragen immer kompromissloser auf. Wie gerade jetzt bezüglich der flankierenden Massnahmen …
Vor allem seit dem Brexit herrscht in der EU die Obsession, dass der Binnenmarkt geschützt werden muss, insbesondere die Personenfreizügigkeit. Entsprechend soll alles abgeschafft werden, was als Hindernis gesehen wird. Wir befürworten den Druck der EU, die Personenfreizügigkeit zu garantieren, doch der Schutz der Arbeiter sollte nicht als Hindernis interpretiert werden. Im Gegenteil: Um die Personenfreizügigkeit zu sichern, ist es wichtig, den Missbrauch auf dem Arbeitsmarkt zu verhindern. Auch bei Verhandlungen von Freihandelsabkommen wird oft argumentiert, dass gute Arbeitsrechte ein Hindernis seien – doch derzeit setzt sich ein neues Narrativ durch, das den fairen Handel betont. Am Ende profitieren auch die Unternehmen, die um die bessere Qualität ihrer Produkte konkurrieren statt um billige Preise.

Der Schutz der Entsenderichtlinie in der EU ist schwächer als jener der flankierenden Massnahmen in der Schweiz.
Ja. Die Richtlinie setzt Prinzipien fest, die die einzelnen Länder mit eigenen Massnahmen umsetzen müssen. Die flankierenden Massnahmen der Schweiz zielen in die richtige Richtung, insbesondere die Achttageregel, nach der Firmen ihre Arbeitseinsätze anmelden müssen, die Kautionspflicht, die sicherstellt, dass Firmen allfällige Bussen bezahlen können, sowie die Ausführung von Arbeitskontrollen durch die Sozialpartner. Diese drei Elemente versuchen wir in allen EU-Ländern zu pushen. Die flankierenden Massnahmen sind also kein Problem, sie sollen vielmehr auf andere Länder ausgeweitet werden. Sie könnten gar zum Vorbild für den Lohnschutz in Europa werden.

Der 49-jährige italienische Staatsbürger Luca Visentini ist seit 2015 Generalsekretär des Europäischen Gewerkschaftsbunds (ETUC) in Brüssel, dem 89 nationale Gewerkschaftsbünde angehören. Visentini hat zudem mehrere Gedichtbände und Romane publiziert.

Die Entsenderichtlinie

In der sogenannten Entsenderichtlinie der Europäischen Union geht es um die arbeitsrechtliche Gleichstellung der in einen Staat entsandten ArbeiterInnen mit den dort wohnhaften Beschäftigten. Erstmals formuliert wurde die Richtlinie vom Europäischen Parlament und vom Europäischen Rat im Dezember 1996. Kriterien hierbei sind bestimmte Aspekte der Arbeitsbedingungen sowie die – soweit vorhanden – allgemeinverbindlichen Tarifverträge.

Im Mai dieses Jahres hat das Europäische Parlament in einer endgültigen Abstimmung einer Überarbeitung der Richtlinie zugestimmt, die das Prinzip «Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort» verbindlich festschreibt.