Verwandtschaft als Kulturgeschichte: «Die ‹Blutslinie› war immer fiktiv, denn Vaterschaft liess sich gar nicht nachweisen»
Ob in Familien oder Weltreligionen: Blut spielt eine zentrale, aber nicht immer eindeutige Rolle. Manchmal ist das «Blut» auch rot gefärbte Tinte, wie Christina von Braun in ihrem neuen Buch zeigt.
WOZ: Frau von Braun, Blut ist dicker als Wasser, sagt der Volksmund. Leibliche Verwandtschaftsverhältnisse erscheinen uns als das Natürlichste der Welt. Das sind sie aber nicht, behaupten Sie und schreiben in Ihrem Buch «Blutsbande», es handle sich dabei nur um die «Camouflage einer abstrakten Idee». Können Sie das erklären?
Christina von Braun: Ethnologen und Anthropologen machen sich heute lustig über ihre Kollegen aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert, die soziale und kulturelle Verwandtschaftsformen als Metaphern für die Blutsverwandtschaft verstanden. Heute wissen sie, dass in vielen indigenen Gesellschaften das gemeinschaftlich bewirtschaftete Land oder die gemeinsam eingenommene Nahrung verwandtschaftliche Bande konstituieren. Das soziale Leben stiftet Verwandtschaft, nicht die leibliche Abstammung.
Aber auch dort gibt es Mütter und Väter, die als solche anerkannt werden.
Sie spielen aber eine geringere Rolle. In Lateinamerika und einigen afrikanischen Kulturen geraten diese Verwandtschaftsdefinitionen mit den vom Christentum importierten in Konflikt. Ich schreibe beispielsweise über einen jungen Mann, der sich um ein verwaistes Kind kümmert und sagt, er sei der Vater. Eine Sozialarbeiterin aus der Stadt widerspricht ihm. Er versteht überhaupt nicht, was sie meint, denn in dem Moment, wo er soziale Verantwortung übernimmt, ist er auch der Vater dieses Kindes. Leibliche Verwandtschaft ist also nicht selbstverständlich, sondern eine kulturelle Übereinkunft. Mich interessierte, wie es dazu kam – und warum dies sowohl im Judentum als auch im Christentum geschah, und zwar zeitgleich, wenn auch auf unterschiedliche Weise.
Was haben Sie bei Ihren Recherchen herausgefunden?
Im 1. Jahrhundert unserer Zeitrechnung ging das Judentum von Patrilinearität in Matrilinearität über. Die Griechen und Römer dagegen hielten an der Patrilinearität fest, verstanden sie aber als eine geistige Linie. Aristoteles übertrug dies sogar auf die Zeugung selbst: Der Samen sei als «geistiges» Zeugungsprinzip zu verstehen. In Rom war ein adoptierter Sohn mit dem Vater enger verwandt als dessen leibliche Kinder. Das Christentum wiederum übernahm die patrilinearen Vorstellungen der griechischen und römischen Antike und übertrug sie auf die Leiblichkeit, indem es sich der Blutsmetaphorik der Passionsgeschichte bediente. Das sakrale Blut Christi diente so der Definition des weltlichen Herrschers.
Der Mediävist Ernst Kantorowicz sprach von den «zwei Körpern des Königs».
Christus hat zwei Naturen, eine göttliche und eine leiblich-sterbliche. Dieses Prinzip wurde auf den König angewandt, der einerseits einen unsterblichen Körper hat, der das Reich repräsentiert, als Individuum aber sterblich ist. Dieses Prinzip wurde dann erblich und zu einem Teil der Verwandtschaftsdefinition, die später auf den Adel insgesamt überging. Gestützt wurde diese genealogische Kette durch Besitz und erbliche Ämter. So war aus einer theologischen Lehre eine «Blutslinie» geworden. Diese war allerdings fiktiv, denn bis 1984 war Vaterschaft nicht nachweisbar.
Sie führen den Begriff der «roten Tinte» ein. Tinte bedeutet ursprünglich gefärbtes, häufig mit Arsen gefärbtes Wasser.
«Rote Tinte» verwende ich für die Patrilinearität, die von einer Blutsverwandtschaft spricht, die eigentlich kulturell oder theologisch ist. Da die biologische Vaterschaft nicht nachgewiesen werden konnte, der «pater incertus» – also der ungewisse Vater – immer unter Legitimationsdruck stand, waren es Akten, Stammbäume, Verträge und eben Ämter und Vermögen, die vom Vater auf den Sohn übergingen. Der einzig sichere Beweis der väterlichen «Blutslinie» war die Schrift.
Warum ist das Judentum überhaupt zur Matrilinearität übergegangen?
Nach der zweiten Zerstörung des Tempels im Jahr 70 nach Christus gab es für die Juden kein Heimatland mehr, eine Situation, die das Judentum schon zuvor in der babylonischen Gefangenschaft erfahren hatte. In dieser Zeit wurde die Thora zu seinem «portativen Vaterland», zu einer mittragbaren Heimat. Die biologische Zugehörigkeit galt als Ergänzung dazu. Als Esra von Babylon nach Palästina zurückkehrte, um im Auftrag des persischen Königs die Ordnung des Gottes Israels wieder einzuführen, ordnete er an, Nichtjüdinnen und ihre Kinder zu verstossen, um die Gemeinschaft zusammenzuhalten. Die Rabbiner griffen dieses Konzept auf und machten die Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinde nun von der Mutter abhängig. In der Diaspora wurde der mütterliche Körper zum Ersatzterritorium, zum neuen Heimatland.
Sie führen diese gegenläufigen Entwicklungen auch auf die unterschiedlichen Schriftkulturen zurück, wobei Sie das Judentum eher in der oralen Kultur verorten. Ich war immer davon ausgegangen, dass für das Judentum die Schrift eine besondere Rolle spielt.
Die Heilige Schrift ist von zentraler Bedeutung für das Judentum, die erste Gemeinschaft, die von einem Text zusammengehalten wird. Da die hebräische Schrift aber nur Konsonanten kennt, kann diese Texte nur lesen, wer auch die hebräische Sprache spricht und die Vokale einsetzen kann. Da Schriftlichkeit immer mit Männlichkeit und Oralität mit Weiblichkeit gleichgesetzt wird, ergibt sich für Text und Oralität eine Komplementarität, wie sie auch das Verhältnis von «portativem Vaterland», der Thora, und mütterlichem Heimatboden kennzeichnet. Das griechische Alphabet schrieb dagegen auch die Vokale und war deshalb nicht auf Oralität angewiesen. Mündlichkeit wurde ebenso abgewertet wie Weiblichkeit. An deren Stelle trat die sakrale Blutslogik.
Neben dem Monotheismus und der Schrift ist das Geld das dritte Element, das Verwandtschaft konstituiert.
Die Kreditvergabe wurde in Griechenland erfunden. Geld gebiert Geld, ein Zeichen reproduziert ein anderes Zeichen. Ähnlich beschreibt Aristoteles die menschliche Fortpflanzung: Die Kinder seien identisch mit ihren Eltern, was natürlich nicht stimmt, es entsteht etwas Drittes. Dennoch: Mit dem Beginn des Industriezeitalters wurden Grund und Boden zunehmend von Geld und Kredit verdrängt, die nun für neue erbliche Besitzverhältnisse sorgen. Damit nimmt der Besitz, der die fiktive väterliche Linie immer in der sozialen Realität verankert hatte, selbst fiktive oder prekäre Dimensionen an.
Im 19. Jahrhundert wird das Konzept der Blutsverwandtschaft vom familialen Körper in einen kollektiven Körper überführt. Welche Folgen hatte das?
Tatsächlich entsteht im 19. Jahrhundert die Idee einer kollektiven Blutsverwandtschaft in Form von Rasse. Das, was in der feudalen Gesellschaft mit ihrer Distinktion des blauen Blutes schon angelegt war, wird nun auf Gruppen übertragen: Wer nicht dazugehört, gilt als Träger von «schlechtem Blut». Die moderne Art dieser Idee beobachten wir heute als Klassendiskurs, vor allem im Finanzkapitalismus: wenn Donald Trump von seinen «Gewinnergenen» oder seinem «guten deutschen Blut» spricht und damit seine Erfolge als Geschäftsmann erklärt. Ähnliches kennen wir auch von den deutschen Finanzeliten, Reichtum wird biologisch begründet, gilt mithin als naturgegeben und unveränderbar. Die biologischen Erkenntnisse des 19. Jahrhunderts förderten allerdings auch zutage, dass jedes Kind die biologische Erbschaft von Vater und Mutter in sich trägt. Die patrilineare Blutslinie verlor an Legitimität. Das trug zur Gleichberechtigung bei.
Mit der Evidenz des Blutes oder heutzutage der Gene werden soziale Verhältnisse naturalisiert. Haben anstelle des Blutes nun die Gene die Herrschaft übernommen?
Ich würde sagen, die Diskurse laufen parallel und widersprechen sich. Einerseits wird an der alten Metaphorik des Blutes festgehalten, nur dass das Wort «Blut» oft durch die Gene ersetzt wird. Andererseits hat die Genetik Beweisbares geschaffen. Sie weist nach, dass es keine homogene biologische Gruppe gibt – das gilt auch für das Judentum, bei dem die nachweisbare Matrilinearität oft das Gegenteil suggerierte.
Mit der Gründung des Staates Israel gibt es also auch keinen Grund mehr für die Aufrechterhaltung der Matrilinearität …
Richtig, in der Diaspora spielt das Reformjudentum eine immer wichtigere Rolle, man erkennt zunehmend auch die Kinder von jüdischen Vätern an. In Israel dagegen, das an der Matrilinearität festhält, streiten sich Rabbiner und Ethiker heute darüber, ob – etwa im Fall einer Eizellenspende – mit der «Mutter» die genetische Mutter oder die Tragemutter gemeint ist.
Die Patrilinearität verliert durch die Fortpflanzungsmedizin also ihre Legitimation, der «pater incertus» erledigt sich durch den genetischen Fingerabdruck. Verliert damit aber auch die Blutsverwandtschaft an Relevanz? Der Wunsch nach eigenen, leiblichen Kindern ist ja ungebrochen und wird durch die reproduktionstechnischen Möglichkeiten verstärkt.
Ich sage auch nicht, dass die leibliche Verwandtschaft keine Rolle mehr spielt, sie ist aber ergänzt worden durch neue, konkurrierende Modelle, etwa die Patchworkfamilie, die viele Charakteristika sozialer Verwandtschaftsdefinitionen aufweist. Allerdings ist die Forschung auch dabei, Nachwuchs aus Stammzellen zu züchten. Dann hätte sich die aristotelische Vorstellung der identischen Selbstreproduktion erfüllt. Und das Labor übernähme die Rolle des «unbewegten Bewegers» – die nach Aristoteles in sich ruhende Quelle aller Bewegung.
Sie haben sich ausschliesslich auf das Judentum und das Christentum bezogen. Hätte nicht auch der Islam berücksichtigt werden müssen?
Das Thema des Buches ist nicht der Monotheismus, sondern die Blutslinie – und deren Charakteristika lassen sich am besten durch die Gegenüberstellung von jüdischer Matrilinearität und christlicher Patrilinearität beschreiben. Mit dem Islam hätte man noch einmal einen neuen historischen Strang aufgemacht, denn im Islam spielen die sozialen Verwandtschaftsverhältnisse eine ganz wichtige Rolle. Zugleich handelt es sich um patrilinear verfasste Gesellschaften, die vor ähnlichen Problemen stehen wie die christlichen, seitdem sie sich mit den neuen Erkenntnissen der Zeugungsforschung auseinandersetzen müssen. Allerdings gehören heute die streng islamischen arabischen Staaten zu den bedeutendsten Kunden von Samenbanken und den Techniken der Reproduktionsmedizin.
Christina von Braun: Blutsbande. Verwandtschaft als Kulturgeschichte. Aufbau Verlag. Berlin 2018. 537 Seiten. 42 Franken