100 Jahre Novemberrevolution: Als die Matrosen meuterten

Nr. 45 –

Wie die deutsche Sozialdemokratie einst die Waffen gegen ihre eigenen WählerInnen richtete. Und warum es an der heutigen SPD liegt, diese Geschichte endlich aufzuarbeiten.

Das Ende des Ersten Weltkriegs war verbunden mit einer revolutionären Welle, die durch ganz Europa schwappte. Ausgangspunkt war die Russische Revolution vom Oktober 1917, die ein Jahr später revolutionäre Bewegungen bis hin nach Spanien inspirierte.

Radikale Veränderungen gab es in den Ländern, die den Krieg verloren hatten: In Russland, in Österreich-Ungarn, in Deutschland, in Bulgarien und in der Türkei purzelten die Kronen. Rätebewegungen erschütterten Ungarn, Österreich und Italien. Aber auch bei den SiegerInnen, in Frankreich, in England und in den USA, kam es zu Massenstreiks, sozialen Bewegungen, Radikalisierungen, die nur durch soziale Zugeständnisse – wie den Achtstundentag und Gewerkschaftsanerkennung – gebremst werden konnten. Selbst in neutralen Ländern wie Spanien gab es mit den anarchosyndikalistischen Bewegungen ein radikales Aufbegehren der Massen. Nicht zu vergessen: die Schweiz mit ihrem Generalstreik im November 1918, der militärisch provoziert wurde und lange als Niederlage des linken Flügels der Sozialdemokratie galt. Die grösste Hoffnung auf eine Revolution ruhte allerdings auf Deutschland. Nur: Die Führer der SPD wollten keine Revolution, nicht einmal eine Republik.

Angst vor der Masse

«Ich fürchte den Augenblick, da die Masse, die Strasse, unter dem Einfluss der Unabhängigen die Durchführung unsres Parteiprogramms von uns verlangt und eine Republik fordert. Deutschland ist nicht reif für eine Republik», sagte Friedrich Ebert, Parteivorsitzender der SPD, zu hohen Vertretern der kaiserlichen Regierung am 31.  Oktober 1918. Mit Parteiprogramm war das Erfurter Programm der SPD von 1891 gemeint: Es forderte das gleiche und direkte Wahlrecht, die Gleichstellung der Frau, den Achtstundentag und die Religionsfreiheit. Hatte Ebert davor Angst? Am meisten Unbehagen dürfte ihm der Teil des Programms bereitet haben, der die demokratische Volkswehr und die Vergesellschaftung der Produktionsmittel, also die Sozialisierung, forderte.

Das Deutsche Reich hatte den Weltkrieg verloren. Vier Jahre lang hatte Eberts Partei diesen Krieg mit der Bewilligung von Kriegskrediten, mit innerpolitischem Burgfrieden, unterstützt. Die Rechtsaussen der Partei wie Gustav Noske hatten gar Annexionen gefordert, etwa Belgien zu annektieren. Noch heute ist dies deutschen SozialdemokratInnen peinlich, sie wollen diese Geschichte nicht mehr hören. Sie halten sich die Ohren zu, bis diese Partei aufhört zu existieren – und das wird wohl nicht mehr lange dauern.

Der Krieg hatte nicht nur Millionen Opfer gefordert und Abermillionen körperlich und seelisch verkrüppelt, er hatte auch die SPD gespalten. Ebert und Freunde hatten die KriegsgegnerInnen aus Fraktion und Partei geworfen, die daraufhin eine eigene gründeten: die Unabhängige Sozialdemokratische Partei (USPD).

Die Revolution, die Sünde

Ebert fürchtete sich vor den Rausgeworfenen. Er und seine GenossInnen im Parteivorstand, meist kleinbürgerlicher Herkunft, hatten sich dem wilhelminischen Staat angepasst. Sie waren Arbeiterbürokraten geworden, gut versorgt von ihrer Partei und seit 1914 umschmeichelt von der kaiserlichen Regierung – ohne die SPD hätte diese den Krieg nie führen können. Ebert fürchtete um seine Karriere, und er fürchtete sich vor den Bolschewiki. Vor Zuständen wie in Russland, wo Lenin mit Trotzki und Terror die Machtverhältnisse auf den Kopf stellte. Dabei fürchtete Ebert weniger den Terror als vielmehr die Umkehrung aller Werte.

«Ich hasse die soziale Revolution wie die Sünde», hatte er dem letzten kaiserlichen Kanzler Max von Baden zugerufen. Zwar waren in der USPD die wenigsten AnhängerInnen der Bolschewiki. Selbst Rosa Luxemburg vom linken Flügel der Partei war eine scharfe Kritikerin des bolschewistischen Terrors, doch sie sah die Partei im Bund mit den ArbeiterInnen auf der Strasse. Ebert hingegen hasste es vor allen Dingen, wenn seine eigenen WählerInnen als Massen auf die Strasse gingen. Die «Heerstrasse der parlamentarischen Beratung und Beschlussfassung» war sein Ideal; nicht die Basis, die die Strasse bevölkerte, streikte, Brot oder das Ende des Kriegs forderte und das Parteiprogramm umgesetzt sehen wollte.

Als dann in Wilhelmshaven und Kiel die Matrosen meuterten, weil sie nicht in einer letzten sinnlosen Seeschlacht untergehen wollten; als der Aufstand sich durch die Matrosen und die Eisenbahn in ganz Deutschland verbreitete; als die Revolutionären Obleute, der USPD nahestehende illegale Betriebsräte, am 9.  November 1918 auch in Berlin die Revolution ausriefen, ArbeiterInnen bewaffnet zu Hunderttausenden die Strassen säumten und die Kasernen meist unblutig stürmten, wusste Ebert, was zu tun war. Wenn die Lokomotive schon nicht aufzuhalten war, musste man den Platz des Lokführers ergattern.

Dies gelang ihm. Max von Baden übergab Ebert abmachungsgemäss die Reichskanzlerschaft. Doch ohne die USPD ging jetzt nichts mehr. Wohl oder übel musste er eine Regierung mit drei SPD- und drei USPD-Volksbeauftragten, wie man sie nannte, akzeptieren. Und er kam nicht daran vorbei, die Macht der Arbeiterinnen- und Soldatenräte, die sich spontan gegründet hatten, vorläufig anzuerkennen.

Der Ebert-Groener-Pakt

Doch Ebert und seinen Helfern gelang es, in den Räten einen SPD-Überhang zu erreichen. Zudem wurden kaiserliche Offiziere, Doppelagenten und Spitzel in die Gremien eingeschleust. Nur nicht die Macht der Strasse zum Zuge kommen lassen, war Eberts Devise. Deswegen blockte er alle Versuche ab, wichtige Punkte des Parteiprogramms voranzubringen, etwa eine demokratische Volkswehr und die Vergesellschaftung der Industrie. Und deswegen verbündete er sich mit der Obersten Heeresleitung (OHL), die ihre Truppen noch tief in Frankreich stehen hatte. Ihr Chef, General Wilhelm Groener, versprach Ebert, die Truppen nach dem Waffenstillstand am 11.  November heimzuführen und mit dem «Räteunwesen» aufzuräumen, wenn sich Ebert mit ihm verbünde. Ebert sagte zu.

Noch heute leugnen SPD-nahe HistorikerInnen diesen Pakt gegen die – ungerechtfertigt als bolschewistisch verschrienen – Räte, während Konservative ihn immer wieder positiv hervorheben. In geheimem Einvernehmen mit Ebert versuchte die OHL, durch verschiedene Putsche und die Rückführung der Fronttruppen die Räte zu entwaffnen und eine Militärdiktatur zu errichten. Die scheiterte im Dezember, als Militärs auf DemonstrantInnen schossen. Den heimkehrenden Truppen rief Ebert zu: «Kein Feind hat euch überwunden.»

An Weihnachten 1918 befahl Ebert den Angriff auf die Volksmarinedivision. Die revolutionäre Einheit war aus den Küstenstädten nach Berlin gekommen und hatte brav die Regierung und die Reichsbank bewacht. Doch die Einheit war ein Hindernis auf dem Weg zur militärischen Restauration. Schliesslich hatte ihr Anführer auf dem Reichsrätekongress Mitte Dezember die Demokratisierung der Armee durchgesetzt, und das wollte die OHL keinesfalls zulassen, weil es die Zerschlagung des Militarismus bedeutet hätte. Doch die im Stadtschloss postierten Matrosen «totzumachen», wie OHL-Chef Groener gefordert hatte, gelang auch mit Artillerie und Gasgranaten nicht, denn die Berliner ArbeiterInnen umzingelten das Schloss und entwaffneten die Angreifer. Aus Protest gegen den Angriff traten die USPD-Mitglieder aus der Regierung aus. Ein grosser Fehler.

Der Bluthund

Die nun reine SPD-Regierung setzte im Januar 1919 den USPD-Polizeipräsidenten ab. Es kam zu Massenprotesten: Hunderttausende gingen auf die Strasse, Zeitungsredaktionen, darunter der «Vorwärts», wurden besetzt. Karl Liebknecht und der spätere DDR-Präsident Wilhelm Pieck erklärten die Ebert-Regierung für abgesetzt – entgegen dem Protest der Führer der Revolutionären Obleute. Ein Kampf um die Macht entbrannte, der sogenannte Spartakusaufstand. Die Bezeichnung ist jedoch irreführend, denn es waren überwiegend USPD-Mitglieder und nicht SpartakistInnen von der KPD, die für ein Weitertreiben der Revolution kämpften.

Ebert holte indes Hardliner Gustav Noske und Freikorps nach Berlin – äusserst gewalttätige Freiwilligenverbände, die von Offizieren befehligt und ohne irgendein Recht gebremst schossen. Mit den Worten «Einer muss der Bluthund sein» übernahm Noske sein Amt.

Jetzt wurden die Redaktionen mit Artillerie und Flammenwerfern befreit, Parlamentarier ohne Standrecht an die Wand gestellt und regelrecht massakriert. Hauptmann Waldemar Pabst, der Anführer des grössten Freikorps, liess Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht von seinen Offizieren ermorden. Luxemburgs Leiche landete im Landwehrkanal.

Pabst wurde für seine Tat nie belangt. In den vierziger Jahren war er als Waffenhändler in der Schweiz und versorgte Nazideutschland mit Tötungsmaschinen. Zurück in der BRD, gab er seinen Offiziersfreunden 1969 «unter uns» bekannt, Noske hätte damals den Mordbefehl abgenickt. Wenn ihm der Papierkragen platze, mache er das publik – zum Schaden der SPD. Die stellte im gleichen Jahr ihren ersten Bundeskanzler: Willy Brandt.

Noch nicht zu spät

Bis heute ignoriert die Historische Kommission der SPD das Abnicken. Es wird noch immer behauptet, Pabst habe gelogen. Konservative HistorikerInnen, die Pabst kannten, halten ihn hingegen für absolut glaubwürdig. Pabst hatte zudem im März 1919, als es zu einem zweiten Generalstreik und durch Agents Provocateurs zu einem zweiten Aufstand kam, Noske einen Befehl untergeschoben: «Jede Person, die mit Waffen in der Hand gegen Regierungstruppen kämpfend angetroffen wird, ist sofort zu erschiessen.» Noske unterschrieb. Dieser rechtswidrige Befehl kostete innerhalb weniger Tage 1200 Menschen in Berlin und 4000 bis 5000 Menschen in ganz Deutschland das Leben. In Europa kam es schon sehr bald zur Konterrevolution, zu faschistischen Bewegungen: in Ungarn, in Italien, später dann in Spanien und in Deutschland.

Dass die Führung der SPD 1919 mit dem blutigen Terror der Freikorps grossteils ihre eigenen WählerInnen, die ArbeiterInnen, dezimieren liess, war und ist ein Tabu. Vor allem bei der heutigen SPD. Dabei will sich die Partei, wie sie versprochen hat, erneuern. Eine einmalige Chance bestünde darin, die Verantwortung für diese verbrecherischen Taten Noskes und Pabsts zu übernehmen und damit einen Neubeginn einzuleiten. Heute, wo rechte Massenbewegungen ganz Europa erschüttern, wo sozusagen die Konterrevolution ohne Revolution kommt, wo die gute alte SPD dem Untergang geweiht scheint, müsste sie sich endlich zu ihrer Geschichte bekennen.

Dazu müsste sie wieder eine Partei der kleinen Leute werden: Weg mit der Agenda 2010, weg mit der Entsolidarisierung, weg mit dem Kampf gegen die Unterschichten. Damals erfolgte der Kampf mit Waffen, heute durch soziale Deklassierung, Leiharbeit, Minijobs und Hartz IV. Die SPD hätte vor über einem Jahr in die Opposition gehen müssen, sie hätte wie in ihren Anfängen eine Partei der Arbeiterinnen, Handwerker, Angestellten und der unteren Schichten werden müssen. Noch ist es nicht zu spät. Hundert Jahre Revolution mahnen.

Über den Autor

Klaus Gietinger, geboren 1955, lebt in Saarbrücken und ist Autor, Drehbuchautor, Filmregisseur und Sozialwissenschaftler. Diesen März erschien sein Buch «November 1918. Der verpasste Frühling des 20. Jahrhunderts». Bereits sein Buch über die Ermordung Rosa Luxemburgs (2009) befasste sich mit jener revolutionären Zeit vor hundert Jahren.

Gietinger drehte und schrieb zudem zahlreiche «Tatorte», TV-Filme, Serien und Dokumentationen, etwa über den Tod von Benno Ohnesorg. Sein bekanntestes Werk, «Daheim sterben die Leut’» (1984), gilt im Westallgäu als Kultfilm.

Nachtrag vom 15. November 2018 : Nahles und der Bluthund von 1918

«Die sind immer im Heute. Die haben kein Gestern und deshalb leider auch kein Morgen», schimpfte Bernd Faulenbach, Geschichtsprofessor und Vorsitzender der Historischen Kommission der SPD im Sommer. Grund für seine Verärgerung war die Ankündigung des Parteivorstands, das von ihm geleitete Gremium aus Kostengründen auflösen zu wollen. Die Historische Kommission befasst sich mit sozialdemokratischer Traditionspflege und Geschichtspolitik. Aufgaben, die nach Ansicht führender SozialdemokratInnen verzichtbar sind oder zumindest keiner eigenen Institutionen bedürfen.

Umso überraschender die Sätze, die – wie die «Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung» berichtete – nun von der SPD-Vorsitzenden Andrea Nahles zu hören waren. Letzten Donnerstag lud die Partei ins Berliner Willy-Brandt-Haus, um der Novemberrevolution von 1918 zu gedenken. Nahles beklagte dort zunächst die Spaltung der Arbeiterbewegung, die die Weimarer Republik destabilisiert und letztlich auch die Machtübernahme der Nazis begünstigt habe. Bezogen auf den Umsturz von 1918 meinte sie, dass die Rolle der SPD nicht beschönigt werden dürfe – vor allem was die Zusammenarbeit der Parteispitze mit dem Militär angehe. Nahles ging noch weiter und sagte: «Dass Gustav Noske seine Hände beim Mord an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht im Spiel hatte, ist wahrscheinlich.»

Der Sozialdemokrat Noske war eine zentrale Figur bei der blutigen Niederschlagung des Spartakusaufstands im Januar 1919, als Luxemburg und Liebknecht ermordet wurden. Hundert Jahre lang hatte die SPD den von Noske zu verantwortenden Terror wie ein Tabu behandelt. Zumindest geschichtspolitisch scheint die Parteispitze die viel beschworene Erneuerung in Angriff nehmen zu wollen.

Daniel Hackbarth