Im Affekt: Pendeln ohne «Blick am Abend»?!

Nr. 49 –

Wenn ich nach Zürich muss, mache ich es wie die meisten PendlerInnen: vor der Arbeit «20  Minuten», nach der Arbeit «Blick am Abend». Letzteren lese ich eindeutig lieber, nicht nur weil Feierabend ist. Während «20 Minuten» behauptet, eine ernsthafte Politzeitung zu sein – und sich damit brüstet, am «neutralsten» von allen über die Antimenschenrechtsinitiative berichtet zu haben –, macht «Blick am Abend» niemandem etwas vor. Hier geht es um das, was knallt – wenn es zufällig mit Politik zu tun hat, auch gut.

«Was? Du liest das?!», fragt mich immer wieder mal jemand. Muss ich doch. Ich habe kein Smartphone, kein Facebook, kein Instagram – «Blick am Abend» sorgt dafür, dass meine Verbindung zu dieser seltsamen Welt der aufgespritzten Lippen, gefotoshoppten Selfies und kitschigen Tattoos nicht ganz abbricht; in der InfluencerIn der Traumberuf der meisten Jugendlichen zu sein scheint und eine 19-Jährige nach dem Haarefärben einen «Monsterkopf» bekommt.

Bei «Fux über Sex» wundere ich mich darüber, wie penetrationsfixiert nicht nur die meisten Ratsuchenden, sondern auch die Beraterin ist, während die «Singles des Tages» leise Traurigkeit auslösen («Was sagen deine Freunde über dich?» – «Dass ich ein wenig verrückt bin»). Ich geniesse die Banalität der «Smalltalk»-Interviews mit Stars, und das «Meme des Abends» finde ich oft richtig lustig. Dann löse ich noch vergnügt das Kreuzworträtsel (warum wurde es inhaltlich eigentlich nicht dem Blatt angepasst?), bevor ich mich wieder der härteren PendlerInnenliteratur zuwende. Klimaberichten und so.

«Blick am Abend» lesen erdet mich, hätte ich jetzt fast gesagt, aber das klingt absurd, denn mit Erde hat diese Welt wenig zu tun. Aber das gilt ja für die Gegenwart generell. Man muss dieser Zeitung zugutehalten, dass sie zu den letzten Medien gehört, die die LeserInnen über alle Altersgruppen, Szenen und Filterblasen hinweg verbinden. Ob das online only auch funktioniert, bezweifle ich.

Die «WOZ am Abend», für die WOZ-Kolumnist und Cartoonist Ruedi Widmer auf Facebook die Zeit gekommen sieht, ist vorerst nicht geplant. Trotz der 344 Likes (bei Redaktionsschluss).