Milchkühe: Direkt vom Euter ist viel gesünder
Eine Milchkuh, die ihr Kalb noch säugt? Das geht – und hat viele Vorteile, sofern der Mensch auf den maximalen Mengenertrag verzichtet. Und es könnte sich finanziell sogar lohnen.
«Es ist schon faszinierend», sagt Martina Knoepfel. «Ein Kalb steht kurz nach der Geburt auf und sucht instinktiv nach der Zitze der Mutter. Wenn es diese nicht findet, hilft die Kuh mit Stupsen nach.»
An diesem sonnigen Nachmittag ist alles schon eingespielt. Es ist Säugezeit, Kühe und Nachwuchs sind noch durch ein Gatter getrennt und warten auf die Tierbetreuerin, die es öffnen wird. Eine Kuh muht schon ungeduldig. Als es schliesslich so weit ist, geht es schnell: Die Kälber gehen schnurstracks auf ihre Mütter zu, stupsen mit der Nase das Euter an und beginnen zu trinken. Bald tropft ihnen weisser Schaum aus den Mundwinkeln. Einige Kühe lecken ihrem Jungen während des Säugens das Fell und regen so die Durchblutung an. Als der Hunger gestillt ist, bleibt noch ausgiebig Zeit für weitere Zärtlichkeiten. Zwei Stunden dürfen sie zusammenbleiben, bevor bei den Kühen die Milch ausgemolken wird, die die Kälber übrig gelassen haben.
Was Martina und Simon Knoepfel auf dem Brüederhof in Dällikon im Zürcher Furttal praktizieren, hat Seltenheitswert. Denn in der kommerziellen Milchwirtschaft wird das Mutter-Kind-Verhältnis normalerweise unterbunden: Das Neugeborene wird nach der Geburt von der Mutter getrennt. Manche BäuerInnen gewähren noch ein, zwei Tage Schonfrist, weil das gesundheitliche Vorteile hat, einige lassen die Kuh nach der Niederkunft noch etwas am Kälbchen schnuppern, andere nehmen es ihr sofort weg. Für alle gilt: Sie wollen möglichst keine Bindung entstehen lassen, um späteren Trennungsschmerz zu vermeiden. Denn der Abschied kommt bestimmt.
Wie eine Totgeburt
Für die Trennung gibt es verschiedene Gründe: Kühe können ihre Milch beim Melken zurückhalten, wenn sie sie für das Kalb aufsparen wollen. Das kann zu Euterentzündungen führen. Zudem kann die Milchleistung einer Kuh, ein entscheidendes Kriterium in der Zucht, nicht genau bestimmt werden, wenn ein kleines Maul eine unbestimmte Menge abzapft. Wichtig ist auch der wirtschaftliche Faktor: Kälber, die ans volle Euter dürfen, saufen mehr Milch, als der Bauer ihnen zugestehen würde, und senken so den Ertrag für den menschlichen Verzehr. Und es kommt je nach Milchpreis meist günstiger, den Tieren mehr Heu und Kraftfutter, auf konventionellen Betrieben auch Pulvermilch zu geben, als den Nährstoffbedarf mit einem hohen Milchanteil zu decken. Kurz: Es ist einfacher, Milchvieh gewinnbringend zu managen, wenn der Mensch alle Aspekte kontrolliert. Milch von säugenden Milchkühen abzuliefern, war bisher sogar verboten (vgl. «Bald legal?» im Anschluss an diesen Text).
Gegen eine Trennung nach der Geburt sprechen die Bedürfnisse der Tiere: «Das Entfernen des Kalbs kommt für die Kuh einer Totgeburt gleich», sagt Hansuli Huber, der kürzlich pensionierte Geschäftsführer des Schweizer Tierschutzes. Das Muttertier habe den inneren Drang, sich um das Neugeborene zu kümmern, zeige Unruhe oder rufe das Kalb, wenn es weggebracht werde, berichtet Huber, der selber auf einem Milchviehbetrieb aufgewachsen ist. Nach spätestens zwei Tagen finde sie sich dann mit der «Totgeburt» ab.
Die Situation der Kälber hängt vom «Verwendungszweck» ab. Für die Fleischmast bestimmte Tiere werden in Gruppen im Stall gehalten, haben also Sozialkontakt, aber in der Hälfte der Fälle keinen Auslauf. Weibliche Kälbchen, die als neue Milchkühe aufgezogen werden, landen häufig im Einzelgehege auf dreieinhalb Quadratmetern, was auch auf Biobetrieben bis zum Alter von acht Wochen erlaubt ist. Sichtkontakt zu Artgenossen ist dabei zwar vorgeschrieben, aber Berührungen sind den Herdentieren kaum möglich, und Weidegang ist auch für Biokälber (anders als für Kühe) nicht obligatorisch. Immerhin profitieren Einzelkälbchen im Gegensatz zur Stallgruppe von frischer Luft, antibakteriell wirkender Sonne und geringem Ansteckungsrisiko bei Krankheiten.
Amme als Alternative
Bei den ViehhalterInnen ist die Einzelhaltung aber auch deshalb beliebt, weil sich die Kälber dann nicht gegenseitig besaugen können. Denn viele Jungtiere entwickeln eine solche Verhaltensstörung: Da sie die Milch aus einer Plastikzitze aufnehmen und oft nur zu vorgegebenen Zeiten, ist ihr Saugbedürfnis chronisch unterbefriedigt. Sie nuckeln darum am Gehegegitter, an Stalleinrichtungen oder saugen ihre Altersgenossen an Euteranlagen, Hoden, Bauchnabel, Schwanz oder Ohren. Weil insbesondere das Euter dauerhaft geschädigt werden kann, tragen manche Tiere einen bestachelten Nasenring, der die «Opfer» pikst, damit sie sich das Besaugen nicht gefallen lassen.
Auf dem Brüederhof in Dällikon kennt man solche Probleme nicht. Dass Muttertier und Kind zweimal täglich zwei Stunden zusammenkommen, reicht aus, um Saug- und Kontaktbedürfnisse zu befriedigen. Die erste Lebenswoche darf das Kälbchen ganztags bei der Kuh bleiben, danach gehts in die Gruppenhaltung mit Auslauf. Martina Knoepfel sieht viele Vorteile in diesem System: Es fällt weniger Arbeit an, da die Milch nicht an die Kälber verabreicht werden muss. Weil die Kühe zuerst säugen dürfen, lassen sie sich danach gut melken. Die Jungtiere sind gesund und legen schnell an Gewicht zu. Da sie viel Milch bekommen, brauchen sie neben der Weide kein Zusatzfutter. Dass der Ertrag für den Verkauf sinkt und die Milchleistung einer Kuh nicht genau bestimmt werden kann, nimmt die Bäuerin in Kauf: «Das, was wir tun, machen wir aus Überzeugung. Wir überlegen nicht, ob es sich rechnet.»
Die Kehrseite der naturnahen Haltung zeigt sich dann, wenn die Kälber den Hof verlassen. Weil die Bindung zugelassen wird, schmerzt die Trennung. Wie auf den meisten Milchbetrieben werden auf dem Brüederhof die Kälber, die für die Fleischproduktion bestimmt sind, nach wenigen Wochen an einen Mastbetrieb weitergegeben. Die weiblichen Aufzuchtkälber, die als neue Milchkühe nachgezogen werden, müssen nach drei Monaten von der Zitze und dem Muttertier Abschied nehmen. Dann rufen die Getrennten manchmal tagelang nacheinander. «Das muss man dann aushalten», sagt Martina Knoepfel. Umso schöner sei es, wenn die Töchter nach der Aufzucht auf der Alp trächtig auf den Hof zurückkehrten: «Dann erkennen sich Mutter und Kind nach bis zu zwei Jahren Trennung wieder.»
Seinen Kühen Beziehungen ermöglichen, das möchte auch Andreas Wälle. Er praktiziert auf einem biodynamischen, also anthroposophisch inspirierten Gemeinschaftsbetrieb in Rheinau im Zürcher Weinland eine andere Variante mit säugendem Milchvieh, die ammengebundene Kälberaufzucht. Nach ein bis drei Wochen bei der Mutter werden die Kälber Ammenkühen zugeteilt, die bis zu drei Jungtiere ernähren und in dieser Zeit nicht gemolken werden. Die anderen Kühe müssen sich so früher von ihrem Kalb verabschieden, bekommen aber ein paar Tage mehr Zeit, wenn sie sich damit besonders schwertun. Und sie haben die Chance, bei der nächsten Geburt zur Amme zu werden und länger säugen zu dürfen. Bei den Ammenkühen gestalten sich Trennungen sanfter, weil die Kälber gestaffelt über einen längeren Zeitraum abgesetzt werden können.
Andreas Wälle ist überzeugt von dieser Methode, die er seit bald zwanzig Jahren anwendet: «Ein Kalb ist ein Säugling, es hat also seinen Sinn, dass es am Euter trinken darf und viel Milch bekommt.» Den Kühen wolle er die Freuden des Mutterseins ermöglichen, statt sie im Unwissen über ihren Nachwuchs in Apathie vegetieren zu lassen. Zudem seien Kälber aus mutter- und ammengebundener Aufzucht später gesündere Tiere. Und auch vorher seien sie vitaler und widerstandsfähiger.
Eine Erfahrung hat den Bauern besonders geprägt: Als vor drei Jahren mit einem fremden Stierkalb ein übler Erreger eingeschleppt worden sei, hätten alle Kälber an schwerem Durchfall gelitten, erzählt er. Durchfallerkrankungen sind die weitaus häufigste Todesursache bei Kälbern und sind bei ViehhalterInnen gefürchtet. Wälle beschloss, alle Kälber bis auf Weiteres bei der Mutter zu lassen, statt auf Ammen zu verteilen, «um jeden Stress zu vermeiden». Er brachte trotz wochenlanger Diarrhö alle Tiere durch – und ist sicher, dass das mit dem herkömmlichen Zuchtverfahren anders geendet hätte.
Halb so viel Arbeit
Bleibt die Frage: Kann man als MilchproduzentIn von säugenden Kühen leben? Gibt es bei einem Durchschnittslohn von 3600 Franken bei 55 und mehr Arbeitsstunden pro Woche in der Landwirtschaft noch Platz fürs Tierwohl? Lässt ein chronisch tiefer und schwankender Milchpreis zu, dass der Ertrag sinkt?
Die erfreuliche Antwort: Die Sache könnte sich finanziell sogar lohnen. Mechthild Knösel, biodynamische Bäuerin im deutschen Überlingen, hat auf ihrem Hof das Zuchtsystem umgestellt und für ihre Meisterarbeit die herkömmliche, die muttergebundene und die ammengebundene Variante verglichen. Zum Systemwechsel motiviert hatten sie Durchfall- und Grippeepidemien, die zu extremem Mehraufwand und hohen Tierarztkosten geführt hatten. Was Martina Knoepfel und Andreas Wälle aus ihrer Erfahrung berichten, konnte Knösel mit Daten belegen: Gesäugte Kälber nehmen pro Liter getrunkene Milch schneller zu, sind seltener krank, verursachen tiefere Arzt- und Medikamentenkosten sowie fünfzig Prozent weniger Arbeitsaufwand. Wobei die muttergebundene Variante in allen Punkten (noch) besser abschnitt als das Ammensystem. Einziger Minuspunkt: Die Milchmenge für den Verkauf sinkt. Unter dem Strich zeigte sich jedoch: Die Mindereinnahmen, weil die Kälber «zu viel» trinken, werden durch die tieferen Gesundheitskosten überkompensiert. Sprich: Die Aufzuchtkosten für ein Kalb sind tiefer, wenn dieses gesäugt wird – Arbeitsersparnis noch nicht eingerechnet.
Auch wenn diese Ergebnisse nicht eins zu eins auf andere Betriebe übertragbar sind, weil jeder andere Voraussetzungen hat: Die naturnahe Haltung von Milchvieh hat Potenzial. Gerade die kleinräumige Schweiz mit ihren überschaubaren Herden und ihren sensibilisierten KonsumentInnen wäre prädestiniert dafür. Andreas Wälle drückt es so aus: «Wenn die betreuenden Menschen von der Methode überzeugt sind, ist die mutter- und ammengebundene Kälberaufzucht unter verschiedenen Bedingungen und mit allen Kühen möglich.»
Bald legal?
Noch wird Milch aus mutter- und ammengebundener Kälberaufzucht erst auf geschätzten 50 bis 60 Betrieben erzeugt (bei gut 26 000 MilchproduzentInnen in der Schweiz). Das mag auch daran liegen, dass das Gesetz bisher verbietet, den weissen Saft aus muttergebundener Aufzucht als Milch zu bezeichnen. In der Verordnung über Lebensmittel tierischer Herkunft heisst es sinngemäss: «Milch ist das ganze Gemelk einer oder mehrerer Kühe, die regelmässig gemolken werden.»
Damit wollte man ursprünglich verhindern, dass entrahmte Milch abgeliefert wird. Dieses «ganze Gemelk» ist aber auch nicht mehr vorhanden, wenn ein Kalb einen Teil getrunken hat. SP-Nationalrätin und Agronomin Martina Munz hat darum im September eine Motion eingereicht, die verlangt, den Verordnungstext so abzuändern, dass die rechtliche Unsicherheit beseitigt wird und Höfe mit muttergebundener Aufzucht ihr Produkt legal vermarkten können. Der Bundesrat hat inzwischen deren Annahme beantragt.
Auf Kosten des Tierwohls
Spezialisiert euch! Das ist seit Jahrzehnten die Botschaft der landwirtschaftlichen Schulen. Darum konzentrieren sich heute manche LandwirtInnen ganz auf Ackerbau, andere auf Milch, wieder andere auf Kälbermast. Spezialisierung spart Zeit – doch sie kann auf Kosten des Tierwohls gehen.
Denn die MilchproduzentInnen wollen jene Kälber, die sie nicht als zukünftige Milchkühe aufziehen, möglichst früh loswerden, um alle Milch verkaufen zu können. Und Kälber von Rassen, die viel Milch geben, setzen schlecht Fleisch an und erzielen keine guten Schlachtpreise – noch eine Folge der Spezialisierung.
So landen oft schon vierwöchige Kälber von vielen verschiedenen Höfen zusammen auf einem konventionellen Mastbetrieb. Das Krankheitsrisiko ist entsprechend hoch, präventive Antibiotikaeinsätze sind üblich. Sie liessen sich vermeiden, wenn die Kälber länger auf dem Geburtsbetrieb bleiben könnten. Das wäre aufwendiger und teurer, aber sinnvoll.