Durch den Monat mit Anet Spengler (Teil 1): Lassen Kühe alles mit sich machen?

Nr. 48 –

Die Agronomin Anet Spengler erklärt, warum die Kuh die perfekte Grasverdauerin ist, aber heute nicht mehr dafür respektiert wird. Trotzdem haben Schweizer Kühe Glück – vor allem im Vergleich zu ihren deutschen Kolleginnen.

Anet Spengler: «Wenn eine Kuh duldsam wirkt, liegt das oft daran, dass sie einen grossen Teil des Tages aktiv mit ihrer Verdauung beschäftigt ist.»

WOZ: Anet Spengler, Sie sind Rindviehspezialistin. Was fasziniert Sie an Kühen?
Anet Spengler: Ihre grosse, ruhige Ausstrahlung und ihre wahnsinnige Lebenskraft – die ihnen auch zum Verhängnis wird. Nur wenige Tierarten werden so stark manipuliert und schaffen es trotzdem noch, ein eigenständiges Leben zu führen. Sie halten unheimlich viel aus.

Was zum Beispiel?
Man kann sie mit Züchtung und Kraftfutter zu enormen Milchleistungen bringen: Sie können zehn- bis fünfzehnmal mehr Milch geben, als ein Kalb bräuchte. Und man kann aus einem einzigen Ejakulat eines Stiers bis zu 800 Samendosen herstellen. Das geht bei keinem anderen männlichen Tier.

Die Kuh ist also das sprichwörtliche duldsame Tier, das alles mit sich machen lässt?
Sie ist nicht nur ein duldendes Tier oder ein Fluchttier; sie kann auch angreifen, wenn es sein muss. Wenn sie duldsam wirkt, liegt das oft an etwas anderem: Sie ist einen grossen Teil des Tages aktiv mit ihrer Verdauung beschäftigt – etwa acht Stunden mit Fressen und acht Stunden mit Wiederkäuen.

Und das beansprucht sie so stark?
Ja. Wir Menschen merken ja nicht, wie wir verdauen – zumindest wenn wir gesund sind. Kühe und andere Wiederkäuer hingegen legen sich hin und brauchen ihre Konzentration für das Wiederkäuen. Es ist ein Stück weit ein bewusster Vorgang: Wenn sie sich gestört fühlen, unterbrechen sie ihn. Das fasziniert mich, diese intensive Konzentration gegen innen. Dank dieser Verdauung kann die Kuh besonders gut nährstoffarme Rohfasern nutzen. Das macht sie auch als Nutztier sehr interessant.

Weil sie so gut Gras verwerten kann.
Ja. Mithilfe von Kühen und Rindern kann man Landschaften und Böden nutzen, die man sonst nicht könnte, auf der ganzen Welt: Steppen und Berge, wo Ackerbau unmöglich ist.

Aber Sie haben es selbst erwähnt: Heute bekommt die Kuh häufig nicht mehr nur Gras.
Das ist ein grosses Problem. Die Kuh hat vier Mägen; ihr ganzes Verdauungssystem ist ausgerichtet auf den langsamen Abbau von Zellulose mithilfe von Mikroorganismen. Wenn man Kraftfutter gibt, geschieht der Abbau schneller, und es entsteht Säure. Bei sehr viel Kraftfutter gehen die Mikroorganismen kaputt, der Zelluloseabbau stockt. Im Extremfall stirbt das Tier. Eine andere häufige Krankheit bei Hochleistungsmilchkühen ist die sogenannte Labmagenverlagerung: Im Labmagen bilden sich Gase, die ihn hochziehen wie einen Gasballon. Der Tierarzt kann dann den Magen unten festnähen, damit er nicht mehr aufsteigt …

Grauenhaft …
Ja. Das passiert aber vor allem bei Riesenmengen Kraftfutter, wie sie hierzulande nicht üblich sind. Im Biolandbau ist hier die Kraftfuttermenge auf zehn Prozent begrenzt, ein konventioneller Schweizer Milchbauer füttert fünfzehn bis zwanzig. In der EU gibt es Betriebe mit fünfzig Prozent und mehr. Da ist das auch in der Forschung ein Thema: Wie weit kann man gehen, dass es die Kuh grad noch aushält?

Warum ist die Schweiz besser?
Weil bei uns viel mehr Kühe auf die Weide dürfen und der Staat das aktiv fördert: mit Programmen wie «Raus» und «Graslandbasierte Milch- und Fleischproduktion». Zwischen siebzig und achtzig Prozent der Milchkühe sind im «Raus»-Programm, bei den Mutterkühen für die Fleischproduktion sind es noch mehr. Wenn ich das deutschen Bauern erzähle, schauen sie mich immer ungläubig an.

Können die heutigen Kühe denn überhaupt noch leben von Gras und Heu allein?
Hier ist der Bund widersprüchlich. Einerseits fördert er diese guten Programme, andererseits aber auch eine Zucht von Tieren, die diese graslandbasierte Produktion nicht gut aushalten. Das betrifft vor allem die Rasse Holstein. Diese Kühe sind so sehr auf hohe Milchleistung gezüchtet, dass es ohne Kraftfutter fast nicht mehr geht. Füttert man sie nur mit Gras und Heu, geben sie meistens immer noch sehr viel Milch, aber es geht auf Kosten ihrer Gesundheit.

In den letzten Monaten sind die Viehschauen in die Kritik geraten: Teils werden Kühe viel zu spät gemolken, damit ihr Euter prall aussieht, Zitzen werden mit Leim verklebt, damit die Milch nicht raustropft … Wie gross ist der Einfluss der Viehschauen auf das Kuh-Schönheitsideal der Landwirtinnen und Landwirte?
Bei einigen ziemlich gross. Ich habe mal einen Züchter gefragt, der immer an Schauen geht, ob er davon leben könne. Er sagte: Chasch dänke, nei! Er kann natürlich ab und zu eine teure Kuh verkaufen. Aber diese Kühe sind ja auch im Unterhalt teuer. Das ist quer: Die Topaussteller können nicht leben von ihren Kühen, aber diese Kühe werden in der Landwirtschaftspresse häufig als Ideal dargestellt.

Sie haben in Graubünden alternative Viehschauen mitorganisiert.
Ja. Dazu haben wir Betriebe gesucht, von denen wir den Eindruck hatten: Die haben Kühe, die zum Standort passen – die vom Futter leben können, das in den Bergen wächst, und auch fit genug sind für dieses Gelände. Gute, langlebige Kühe – die für ihre Halter sicher wirtschaftlicher sind als Hochleistungskühe.

Anet Spengler (53) ist Ingenieur-Agronomin ETH und arbeitet am Forschungsinstitut für biologischen Landbau (FiBL) in Frick AG.