Argentiniens Wirtschaftskrise: Wenn nur noch die Tauschbörse bleibt
Wie Präsident Mauricio Macri mit einer neoliberalen Radikalkur internationales Kapital ins Land locken wollte und doch nur die Armen noch ärmer gemacht hat.
Man könnte das Gewusel für einen Flohmarkt halten, aber es geht nicht um Trödel und Nippes. Es geht ums Überleben. Eine Jeans wird gegen ein halbes Dutzend Eier und ein Kilo Zucker getauscht, ein Hemd gegen eine Flasche Speiseöl und eine Packung Spaghetti. Treffen Angebot und Nachfrage nicht direkt aufeinander, kann ein Handel auch über drei, vier oder noch mehr Beteiligte vereinbart werden. Lebensmittel stehen weit höher im Kurs als Kleider, denn Lebensmittel braucht man sofort. Kleider können warten.
Gleich hinter den Bahngleisen, auf denen altersschwache Züge die PendlerInnen ins knapp vierzig Kilometer entfernte Buenos Aires bringen, ist vor ein paar Monaten die grösste informelle Tauschbörse von Moreno entstanden. Im gut 150 000 EinwohnerInnen zählenden Vorort der argentinischen Hauptstadt wohnen immer weniger ArbeiterInnen und immer mehr Arbeitslose, die nur noch mit Improvisation über die Runden kommen. Solche Tauschbörsen, auf denen ohne Geld und fast ausschliesslich von Frauen gehandelt wird, gehören zu diesem prekären Lebensstil. Es gab sie zuletzt beim Staatsbankrott 2002; jetzt gibt es sie wieder.
Szenen wie diese hat Präsident Mauricio Macri den FührerInnen der wichtigsten Industrienationen nicht gezeigt, als sich diese am 30. November und 1. Dezember vergangenen Jahres in Buenos Aires zu ihrem G20-Gipfel trafen. Der drahtige, grau melierte Sohn eines Milliardärs mit einem Dauerlächeln im Gesicht war stolz auf dieses Grossereignis des Polittourismus. «Vor ein paar Jahren noch lag Argentinien im globalen Abseits», brüstete er sich. Jetzt aber habe man das Land mit der Organisation dieses wichtigen Treffens des Weltkapitalismus betraut.
Doch schon zwei Wochen später musste er bekennen, dass ebendieses Land heimgesucht worden sei «von einer unendlichen Folge von Gewittern, die mit einer Trockenperiode und mit der Flucht der zentralen Märkte aus den aufstrebenden Märkten begann». Nimmt man Macri beim Wort, sieht er sich ohne Schuld. Es war nicht er, es waren Naturereignisse – Gewitter eben –, die Argentinien an den Rand eines neuen Staatsbankrotts und die Frauen der Tauschbörse von Moreno ins Abseits getrieben haben.
Unter Macri geht es bergab
Die Bilanz des Mauricio Macri ist zu Beginn des Jahres, in dem er sich im Oktober für eine zweite Amtszeit wählen lassen will, verheerend. In den gut drei Jahren seiner Regierung ist die Wirtschaft geschrumpft, zuletzt 2018 um 2,5 Prozent. Die Inflation ist im vergangenen Jahr auf 47,6 Prozent gestiegen. Die Zentralbank hatte sie zunächst auf 12 Prozent veranschlagt. Das lässt Schlimmes erahnen: Jetzt geht die Zentralbank von 28,7 Prozent für 2019 aus. Liegt die Zentralbank wieder in gleichem Masse daneben, ist die 100-Prozent-Marke durchbrochen. Der argentinische Peso hat gegenüber dem US-Dollar schon jetzt über 50 Prozent seines Werts verloren, die Auslandsverschuldung ist auf 80 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung gestiegen, und der Leitzins der Zentralbank liegt bei 70 Prozent.
Die durchschnittliche Kaufkraft der ArgentinierInnen ist innerhalb des vergangenen Jahres um 10 Prozent gesunken. Das Land steckt in der tiefsten Wirtschaftskrise seit dem Staatsbankrott, und niemand wagt vorherzusagen, wie lange sie noch dauert. Nicht einmal der daueroptimistische Staatschef geht davon, dass es in diesem Jahr besser wird. Seine Regierung prognostiziert vorsichtig, es werde um weitere zwei Prozent bergab gehen. Dafür wurde Macri nicht gewählt.
Er hatte, als er sich um das Präsidentenamt bewarb, angekündigt, er werde die Inflationsrate deutlich nach unten drücken. Unter seiner Vorgängerin Cristina Fernández war diese langsam auf um die 20 Prozent geklettert. Macri hatte sich darüber lustig gemacht, dass die Wachstumsraten, die sich in den ersten zehn Jahren der Regierungszeit unter der linksperonistischen Fernández (2007–2015) und zuvor ihrem verstorbenen Ehemann Néstor Kirchner (2003–2007) zwischen fünf und zehn Prozent bewegt hatten, zuletzt langsam gegen null gesunken waren. Er behauptete, das liege an präsidialen Interventionen in die Wirtschaft. Daran, dass mit Devisenkontrollen und Exportzöllen der freie Waren- und Kapitalverkehr behindert werde. Und es liege vor allem daran, dass wegen der Weigerung von Fernández und Kirchner, die Forderungen sogenannter Geierfonds zu bedienen, Argentinien von den internationalen Finanzmärkten ausgeschlossen sei. Spekulanten hatten in der Zeit des Staatsbankrotts argentinische Schuldentitel zu Spottpreisen gekauft und wollten dann den vollen Nennwert plus Zinsen ausbezahlt bekommen.
Kirchner hatte alle beim Internationalen Währungsfonds (IWF) aufgenommenen Kredite 2005 zurückbezahlt und den privaten Gläubigern Argentiniens einen Schuldenschnitt von bis zu 70 Prozent abgerungen. Nur ein paar wenige Spekulanten hatten dabei nicht mitgemacht. Kirchner und nach ihm seine Frau setzten auf die in Lateinamerika schon so gut wie vergessene Erkenntnis des John Maynard Keynes, nach der eine Erhöhung der Lohnquote zu Wirtschaftswachstum führt. Als eine seiner ersten Massnahmen erhöhte Kirchner den gesetzlichen Mindestlohn, und tatsächlich begann die Wirtschaft zu wachsen, die Armutsquote nahm stetig ab. Während der grossen Krise 2001 und 2002 war sie auf über 50 Prozent gestiegen, am Ende der Regierungszeit von Cristina Fernández lag sie bei um die 20 Prozent.
Mit dem steigenden Wohlstand der ArgentinierInnen stieg auch die Nachfrage nach Gütern, auch jenseits von Lebensmitteln, Wohnraum und Kleidung. Die Wirtschaft des Landes kann diese Nachfrage nicht befriedigen. Sie ist nach wie vor auf den Export von Rohstoffen ausgerichtet: Soja, Mais, Weizen. Die meisten verarbeiteten Produkte werden importiert und in US-Dollars bezahlt. Steigender Wohlstand liess in den letzten Jahren der Regierung Fernández nicht mehr die heimische Wirtschaft brummen, sondern erhöhte vor allem die Importe. Die Wachstumsraten näherten sich der Null, die Devisen wurden knapp. Kredite auf den internationalen Finanzmärkten aber waren wegen des Streits mit den Geierfonds nicht zu haben.
Neoliberalismus statt Keynes
Das war die Chance des Mauricio Macri. Er versprach, er werde den unter Kirchner und Fernández erreichten Lebensstandard durch die Finanzierung von aussen erhalten. Voraussetzung dafür sei eine Einigung mit den Geierfonds. Wenn man gleichzeitig alle Hindernisse für den Waren- und Kapitalverkehr beseitige, dann werde Argentinien eine «Investitionsflut» und eine «Revolution der Freude» erleben. Kurzum: Statt Keynes herrschte wieder das neoliberale Dogma.
Allein die Einigung mit den Spekulanten kostete Argentinien rund fünfzehn Milliarden Dollar. Sie war die Voraussetzung dafür, dass Macri innerhalb von nur zwei Jahren auf den internationalen Finanzmärkten neue Schulden von über hundert Milliarden Dollar aufnehmen konnte. Zudem hat er in einer seiner ersten Amtshandlungen fast alle Exportsteuern aufgehoben. Nur diejenigen auf Soja wurden lediglich gesenkt. So wurde das Geld in der Staatskasse knapp, und Macri musste sparen. Allein in seinem ersten Amtsjahr wurden 20 000 öffentliche Bedienstete entlassen. Dazu gingen 120 000 Arbeitsplätze wegen der radikalen Marktöffnung für ausländische Billigkonkurrenz verloren. Aktuelle Zahlen liegen nicht vor, aber die Zahl der Entlassenen dürfte sich seither mindestens verdoppelt haben.
Auch die Devisenkontrollen wurden sofort aufgehoben – worauf der nun frei gehandelte Peso sofort rund 30 und inzwischen fast 100 Prozent seines Werts gegenüber dem Dollar verloren hat. Es war ein Geschenk für die landwirtschaftliche Grossindustrie: Die Pesoschwäche machte ihre Waren auf dem Weltmarkt billiger, die weggefallenen Exportsteuern erhöhten zusätzlich die Gewinnmargen. Das war auch so gedacht. Macri hatte angekündigt, er wolle Argentinien zum «Supermarkt der Welt» machen.
Die Armen bezahlen die Rechnung
Bezahlen müssen das die einfachen Leute. Um den Haushalt einigermassen im Lot zu halten, strich die Regierung Subventionen auf Wasser, Strom, Gas und den öffentlichen Transport. Gleich nach Macris Amtsantritt wurde der Gaspreis um 300 und der Wasserpreis um bis zu 375 Prozent erhöht. Nach drei Jahren Neoliberalismus sind die Preise für diese Grundversorgung um bis zu 2000 Prozent gestiegen.
Die von Macri angekündigte «Investitionsflut» aber blieb aus. Zwar war es ihm gelungen, im September 2016 rund 2500 Firmenchefs und Regierungsvertreterinnen nach Buenos Aires zu locken, um sein Land zu bewerben. Danach aber parkierten nur ein paar Spekulanten vorübergehend ein paar ihrer Millionen in Buenos Aires, um die enormen Zinsen mitzunehmen. Produktive Investitionen gab es so gut wie keine. Auch die heimische Wirtschaft investiert nicht mehr – was bei den derzeitigen Zinsen kein Wunder ist.
Als dann Anfang 2018 eine lange Trockenperiode die Sojaernte dezimierte und die Spekulanten ihre parkierten Millionen abzogen, als die US-Notenbank im März den Leitzins anhob, war Macris «Revolution der Freude» endgültig tot. Um einen neuerlichen Staatsbankrott zu verhindern, brauchte er einen Notkredit vom IWF. Die zunächst vereinbarten 50 Milliarden US-Dollar waren zu wenig und wurden schnell auf 57 Milliarden erhöht.
So viel Geld auf einmal hat der IWF in seiner Geschichte nur sehr selten einem Land geliehen, und er fordert entsprechende Gegenleistungen. Macri hat die von ihm einst gegeisselten Exportzölle wieder eingeführt und die Etats von Gesundheits- und Bildungswesen zusammengestrichen. Vor allem die letzteren Sparmassnahmen werden die Konkurrenzfähigkeit Argentiniens auf Jahre hinaus beeinträchtigen und eine substanzielle Erholung der Wirtschaft verzögern. Dem IWF aber reichen sie nicht. Weitere Erhöhungen der Tarife im öffentlichen Nahverkehr wurden bereits angekündigt.
Reichen Leute wie Macri tut das nicht weh, die haben ihre eigenen Fahrer. Der Anteil der Armen aber steigt und steigt, von rund 20 Prozent bei Macris Amtsantritt auf inzwischen 33 Prozent. Bei einer durchschnittlichen ArbeiterInnenfamilie fliesst schon jetzt ein ganzer Lohn in die Rechnungen für Wasser, Gas und Strom und in die Tickets für Bus und U-Bahn. Wird nur eineR in einer solchen Familie arbeitslos, bleibt nur noch der Weg zur Tauschbörse.
Noch einmal Fernández
Voraussichtlich wird Cristina Fernández bei der Präsidentschaftswahl im Oktober Gegnerin von Mauricio Macri sein. Sie darf nach vier Jahren Pause wieder antreten. Derzeit ist sie Senatorin und durch ihre Immunität vor Korruptionsprozessen geschützt.
Tatsächlich ist während ihrer Regierung nicht alles sauber vonstattengegangen. Erfolgversprechendere mögliche Kandidaturen haben die PeronistInnen jedoch nicht. Zwar sind sie derzeit in drei Blöcke gespalten, Fernández aber hat bei weitem die meisten AnhängerInnen, vor allem unter den Armen. Und deren Zahl wächst unter der Macri-Regierung stetig.