Essay: «Wer Sexismus ausschliesslich bei anderen verortet, teilt Frauen von oben herab in legitime oder illegitime Feministinnen ein»
Geschlecht und Sexualität werden im Zuge zugespitzter Migrationsdebatten oft dazu benutzt, Grenzen von Zugehörigkeit zu ziehen oder Ausgrenzung und Abschottung zu legitimieren.
Neulich fragte mich ein Herr auf Twitter, wie ich eigentlich zu den Kämpfen der iranischen Frauen gegen das Verschleierungsgesetz stünde und warum ich mich nicht für diese Frauen einsetzte, die von echter Unterdrückung betroffen seien. Er würde mir mein feministisches Engagement nur abnehmen, wenn ich mich auch gegen Zwangsverschleierung, Steinigung, Genitalbeschneidung – also gegen die wirklich schlimmen Dinge – einsetzen würde. Mit seinen Fragen legte er mir nahe, nicht die Schweizer Männer zu kritisieren, sondern «die Moslems». In der Schweiz sei man schliesslich gleichgestellt, man bewege sich hier höchstens noch im «Mikrokosmos» der Geschlechterungleichheit.
Ich begann – es war wohl ein Fehler – eine Diskussion mit dem Herrn auf Twitter. In einem Moment der Ermüdung schrieb ich dann, ich hätte nun keine Zeit mehr, da ich an ein Streiktreffen gehen und mich um Lohngleichheit kümmern müsse. Seither postet er in regelmässigen Abständen, sobald irgendwo die Rede auf Frauen aus dem arabischen Raum kommt, einen Screenshot von meinem Tweet beziehungsweise einen Ausschnitt davon: «Ich habe keine Zeit.» Er kommentiert dann jeweils, sinngemäss: «Das ist Schutzbachs Antwort auf meine Frage, was sie gegen Gewalt und Terror unternimmt.»
Die Anekdote zeigt zunächst, was häufig passiert, wenn sich Frauen öffentlich feministisch äussern: Es schalten sich Männer ein, die meinen, besser zu wissen, was richtiger Feminismus sei – visionärer, realistischer, marxistischer, weniger marxistisch, liberaler, weniger identitätspolitisch, mehr gegen den Islam gerichtet und so weiter. Sie sagen: Wenn frau nur dieses oder jenes tun würde, dann würde mann sich solidarisieren. Viele verweisen dabei auf die Frauenfeindlichkeit im Islam.
Im gleichen Atemzug, in dem sie die Abwesenheit von Sexismus in Europa oder der Schweiz behaupten, schiessen diese Bewunderer der iranischen oder saudi-arabischen Kämpferinnen oft gegen hiesige Feministinnen. Typisches Beispiel: Frank A. Meyer, wenn er in seiner «Blick»-Kolumne die Frauen der #MeToo-Bewegung als «Schwatzbasen» verhöhnt, um gleichzeitig Frauen zu feiern, die gegen den Islam kämpfen. Es ist bezeichnend: Meyer lobt den Mut jener Frauen, die von ihm selbst nichts fordern, ihm absolut nichts streitig machen. So verschafft er sich und vielen anderen zugleich die Möglichkeit, seine Aversionen gegen jene «westlichen Feministinnen» auszudrücken, die es in der Schweiz wagen, Forderungen zu stellen oder Männer zu kritisieren, namentlich «linke Frauen, Feministinnen, Sozialdemokratinnen, Antifaschistinnen – das ganze Spektrum der #MeToo- und Gender-Bewegung».
Es ist sehr bequem, Frauen zu verehren, die etwa im Iran gegen den Kopftuchzwang oder «den Islam» protestieren. Weil sie weit weg sind, weil sie einen nicht an die eigenen sexistischen Verhaltensweisen oder an Unzulänglichkeiten erinnern, kurzum: weil sie keinerlei Veränderungen oder kritische Selbstreflexion im eigenen Leben abverlangen. Mit dem Argument, dass es Iranerinnen oder generell muslimischen Frauen schlechter gehe, wird die Schweiz ausserdem zum Gleichstellungsparadies hochstilisiert, zu einem Ort, wo alles erreicht wurde und an dem es keine weiteren gleichstellungspolitischen Massnahmen oder feministischen Interventionen braucht.
Die Kämpfe iranischer Frauen sind wichtig, keine Frage – hier aber werden sie letztlich instrumentalisiert, um hiesige Feministinnen und ihre Kämpfe für nichtig zu erklären, um Gleichstellungsanstrengungen zu delegitimieren oder gar zu verhindern. So befand zum Beispiel der SVP-Nationalrat Yves Nidegger, Mitinitiator der Burkainitiative, die Schweiz habe es nicht nötig, die Istanbul-Konvention zur Verhütung von Gewalt gegen Frauen zu unterzeichnen, solche Abkommen brauche es nur in «Macholändern». Die Welt wird also eingeteilt nach dem Stand der jeweiligen Gleichstellungspolitik: hier die überlegene, weil fortschrittliche westliche Welt, dort die «rückständigen» Menschen aus «Macholändern».
Die Forschung spricht in diesem Fall von «Gleichstellungsnationalismus», «Femonationalismus» oder «Homonationalismus». Das heisst, man beruft sich auf eine im eigenen Land angeblich vollbrachte Gleichstellung oder schmückt sich mit Rechten für Homosexuelle, um sich gegenüber anderen Nationen oder Bevölkerungsgruppen wie Geflüchteten oder MigrantInnen abzuheben. Gleichstellung wird dabei zu einer Distinktionskategorie, mit der MigrantInnen und Geflüchtete als nicht zugehörig markiert werden.
Auch manche Frauen argumentieren gleichstellungsnationalistisch. So behauptete jüngst die SVP-Politikerin Natalie Rickli in der Sendung «Talk Täglich», dass es in der Schweiz keine Veränderungen brauche, weil wir hier längst gleichgestellt seien. Einzig bei MigrantInnen gebe es Handlungsbedarf, was Gewalt gegen Frauen betreffe. Ähnlich argumentiert die lesbische AfD-Vorsitzende Alice Weidel, wenn sie sich in einer Ansprache für die Rechte von Homosexuellen ausspricht und ihre Partei in ein homosexuellenfreundliches Licht rückt – aber mit dem Verweis darauf, dass die Sicherheit von Homosexuellen in Deutschland wegen der «rückständig» eingestellten Flüchtlinge nicht mehr garantiert sei.
Es geht hier nicht darum, AkteurInnen wie Natalie Rickli oder anderen ihre Überzeugung für Gleichstellung abzusprechen. Genauso wenig geht es darum zu behaupten, es gebe keinen Sexismus oder keine Gewalt seitens von MigrantInnen. Begriffe wie «Gleichstellungsnationalismus» schärfen jedoch den Blick dafür, dass Geschlecht und Sexualität im Zuge zugespitzter Migrationsdebatten oft dazu benutzt werden, Grenzen von Zugehörigkeit zu ziehen oder Ausgrenzung und Abschottung zu legitimieren.
Auch in Einbürgerungsverfahren werden KandidatInnen heute teils aufgrund ihres Gleichstellungsverhaltens als «mehr oder weniger schweizerisch» definiert. Das hat ein Forschungsteam um die Schweizer Sozialanthropologin Janine Dahinden in einer Studie gezeigt. Zwar sei Geschlechtergleichheit im Einbürgerungsprozess kein «hartes» Kriterium wie etwa der Wohnsitznachweis. Sie findet sich jedoch in den «weichen» Kriterien, die den verantwortlichen BeamtInnen einen Ermessensspielraum für ihren Entscheid lassen. So wird zum Beispiel erwartet, dass ausländische Frauen erwerbstätig sind und die Hausarbeit von ihrem Ehemann mitgetragen wird. Ist dies erfüllt, steigt den Forscherinnen zufolge die Chance für einen positiven Einbürgerungsentscheid, und umgekehrt.
Nun kann man diskutieren, wie sinnvoll es ist, eine Einbürgerung zu verweigern, zu verzögern oder infrage zu stellen, wenn bei einem Paar die Gleichstellung in keiner Weise erfüllt ist. Oder aber umgekehrt, ob in solchen Fällen gerade eingebürgert werden sollte, weil dann für die Frau etwa die Chance steigt, dass sie Zugang zu Unterstützungsangeboten bekommt oder sich scheiden lassen kann, ohne ihren Aufenthaltsstatus zu verlieren.
Fragwürdig ist aber, wenn beliebig einsetzbare Kategorien wie «weibliche Erwerbstätigkeit» oder die «Mithilfe von Männern im Haushalt» eine entscheidende Rolle dabei spielen, ob jemand eingebürgert wird oder nicht. Und vor allem: Wenn alltagsweltliches Verhalten, das auch in gutschweizerischen Haushalten mehrheitlich nicht umgesetzt ist, zum Massstab dessen wird, was als «schweizerisch» gilt und was nicht.
Fragwürdig ist, wenn ein Land, in dem Frauen erst seit fünfzig Jahren überhaupt abstimmen dürfen und wo es durch diese im internationalen Vergleich einzigartige Verzögerung bis heute grundlegende gleichstellungspolitische Defizite gibt, Menschen aus anderen Ländern pauschal ein Emanzipationsdefizit unterstellt.
Fragwürdig ist, wenn sich ein Land, in dem Frauen nach wie vor achtzig Prozent der Haus- und Familienarbeit übernehmen, die Gleichstellung als «schweizerischen Wert» auf die Fahnen schreibt. Ein Land auch, das regelmässig von der Uno gerügt wird, weil es den in der Verfassung und in internationalen Abkommen festgehaltenen Gleichstellungsauftrag nicht ausreichend umsetzt, ein Land, in dem Vergewaltigung in der Ehe erst seit 1992 als Offizialdelikt definiert wird. Und nicht zuletzt ein Land, das kein Problem damit hat, die muslimische Bevölkerung in der Schweiz zum Feindbild aufzubauen und gleichzeitig Geschäfte mit den Saudis zu machen.
Wenn auf Geschlechterungleichheit bei MigrantInnen verwiesen wird, geht es sehr oft darum, diese insgesamt und pauschal als problematisch erscheinen zu lassen und vor allem: als das genuin Andere. Die Probleme von MigrantInnen und Geflüchteten, so hat die Historikerin Fatima El-Tayeb in ihrem Buch «European Others» gezeigt, werden in europäischen Migrationsdebatten oft als vorgängige Attribute einer mitgebrachten Kultur dargestellt. Unterschlagen werde dadurch, inwiefern bestimmte Einstellungen und Verhaltensweisen etwa in Geschlechterfragen auch und gerade im Wechselverhältnis mit der Aufnahmegesellschaft entstehen oder verstärkt würden.
Man denke zum Beispiel an die trotzigen Repatriarchalisierungsversuche von jungen migrantischen Männern. Diese sind nicht selten auch eine Reaktion auf eine Gesellschaft, die migrantische Männer auf den Status von Arbeitstieren reduziert – eine Reaktion auch auf eine Gesellschaft, in deren Boys-Netzwerken kein Platz für migrantische oder geflüchtete Männer vorgesehen ist. Fakt ist: Auch bei MigrantInnen, wie bei allen anderen, ist die Haltung in Geschlechterfragen nicht einfach von Natur oder Kultur aus da. In ihrem Fall ist sie immer auch geprägt von Migrationsgeschichten, Fluchtbedingungen, Asylverfahren, von Erfahrungen mit Diskriminierung und Ausgrenzung in Europa.
Selbstverständlich entschuldigt die Erfahrung von Stigmatisierung keine gewalttätigen oder frauenfeindlichen Handlungs- und Denkweisen. Und selbstverständlich sollen Menschen dafür zur Verantwortung gezogen werden. Auch kann von allen Menschen und Communitys erwartet werden, dass sie Gewalt, Frauenfeindlichkeit und sexistische Strukturen hinterfragen, offensiv bekämpfen und Geschlechterrollen neu verhandeln und modernisieren, auch unter schwierigen Lebensbedingungen. Aber wie migrantische Menschen und Generationen heute und zukünftig Geschlechterrollen und Sexualität leben, ist nicht einfach «deren Ding», sondern hängt durchaus auch von der sogenannten Mehrheitsgesellschaft ab.
Nehmen wir die Burka als Beispiel. Die meisten in der Schweiz lebenden MuslimInnen lehnen sie ab. Gemessen an den tatsächlichen Lebensweisen hiesiger MuslimInnen, war die Burka lange völlig marginal. Das hat sich stark verändert, heute stehen selbst Menschen, die noch nicht mal religiös sind, unter Rechtfertigungsdruck. Denn über die Burka wurde in den vergangenen Jahren oft so diskutiert, als stünde sie generell für «die MuslimInnen» beziehungsweise für «den Islam» und überhaupt für die Rückständigkeit aller Menschen, die man irgendwie als «türkisch» oder «arabisch» einordnet.
Natürlich gibt es unter den BurkakritikerInnen viele Menschen, denen es tatsächlich um die betroffenen Frauen geht und darum, die konkrete Praxis der Zwangsverschleierung einzudämmen. Die meisten öffentlichen Äusserungen zum Thema, vor allem jene, die am meisten gehört werden, zielen jedoch darauf ab, Zwangsverschleierung mit muslimischer Identität per se zu verknüpfen und auf diese Weise die Existenzberechtigung von MuslimInnen in der Schweiz infrage zu stellen.
Das hat den Effekt, dass plötzlich Menschen die Burka verteidigen, das heisst aus Abwehr und Trotz gegen diese grundlegenden Angriffe eine Praxis schönreden, mit der sie sich gar nie identifiziert haben oder die sie eigentlich ablehnen. Kurzum: Auch dieses Beispiel zeigt, dass Einstellungen und Verhaltensweisen von MigrantInnen stets in ihrem Wechselverhältnis mit der Aufnahmegesellschaft betrachtet werden müssen.
Solche komplexen Zusammenhänge werden allerdings im Zuge gleichstellungsnationalistischer Rhetorik unmöglich, denn diese teilt die Welt in fortschrittlich und rückständig, in falsch oder richtig ein. Gezogen werden Trennlinien, die ein homogenes Schweizer Volk gegenüber ebenso homogenen Anderen verabsolutieren und nahelegen: Die sind so, und wir sind so, und deswegen gehören die hier nicht hin.
Nicht zuletzt bieten gleichstellungsnationalistische Positionen die Möglichkeit, über die Selbststilisierung der Schweiz als gleichgestelltes Land wichtige Schritte in Sachen Gleichstellung bei uns abzuwehren. Und wer, wie es Frank A. Meyer oder der Herr auf Twitter vormachen, Sexismus ausschliesslich bei anderen verortet, teilt Frauen von oben herab in legitime oder illegitime Feministinnen ein und schreibt ihnen in astreiner patriarchaler Manier vor, was sie zu tun haben: Erst dann, wenn ich als Schweizer Feministin für Frauen im Iran kämpfe, darf ich auch hier etwas sagen.
Ja, tatsächlich: Gleichstellungsnationalisten bieten meist selbst den besten Beweis dafür, wie viel es auch in der Schweiz noch zu tun gibt.
Franziska Schutzbach
Die Geschlechterforscherin und Soziologin Franziska Schutzbach (40) lehrt an den Universitäten Basel und München. Soeben erschien ihr Buch «Die Rhetorik der Rechten. Rechtspopulistische Diskursstrategien im Überblick».