Wahlen in der Ukraine: Der Mann ohne Eigenschaften
Derzeit deutet alles darauf hin, dass der Fernsehkomiker Wolodymyr Selenski zum nächsten Präsidenten der Ukraine gewählt wird. Wer ist er? Und was will er?
Ausgerechnet am Abend seines grössten Erfolgs wird ihm der Rummel zu viel. Ihm, dem populären Schauspieler, der das Rampenlicht doch so sehr liebt. Als die Wahllokale schliessen, im schicken Hauptquartier in der Kiewer Innenstadt die Balken auf der grossen Leinwand in die Höhe schnellen und klar ist, dass Wolodymyr Selenski die grosse Sensation geglückt ist, tritt er auf die Bühne. Er küsst seine Frau, bedankt sich kurz, macht schüchtern das Victoryzeichen in die Kameras und erzählt einen Witz. Doch so schnell, wie er gekommen ist, ist er auch schon wieder weg. Zurück bleiben ratlose JournalistInnen.
Es ist der Abend des 31. März, und der Fernsehkomiker Wolodymyr Selenski hat soeben den ersten Durchgang der ukrainischen Präsidentschaftswahlen gewonnen, mit dreissig Prozent sogar noch deutlicher als erwartet und mit fast doppelt so vielen Stimmen wie der amtierende Präsident Petro Poroschenko. Viele BeobachterInnen sind sich einig, dass Selenski der Sieg bei der Stichwahl am 21. April nicht mehr zu nehmen sein wird.
Kabarettabende statt Wahldebatten
Alles hatte Selenski in diesem Wahlkampf anders gemacht als die übrigen KandidatInnen: keine Hände auf Wahlveranstaltungen geschüttelt, sondern die letzten Folgen seiner Fernsehserie gedreht. Keine Wahldebatten geführt, sondern an ausgebuchten Kabarettabenden die politischen GegnerInnen aufs Korn genommen. Wer Selenski ist und was er will, ist dadurch schwer zu fassen. Doch der etwas unbeholfene und scheue Auftritt des kleinen, drahtigen Schauspielers am Wahlabend zeigt, was er wohl nicht sein wird: ein polternder Populist à la Beppe Grillo oder Donald Trump, mit denen ihn KritikerInnen verglichen hatten. Oder war das wiederum nur eine Rolle wie die des tollpatschigen, aber gutherzigen Fernsehpräsidenten Wassyl Holoborodko, den Selenski in der bekannten Fernsehserie «Sluga Naroda» (Diener des Volkes) spielt?
Wolodymyr Selenski, 1978 in der südukrainischen Industriestadt Krywyi Rih in eine russischsprachige jüdische Familie geboren, ist seit Jahren eine fixe Grösse im ukrainischen Showgeschäft. In den neunziger Jahren gründete er mit Freunden die Kabaretttruppe Kwartal 95, mit der er bis heute durchs Land tourt. 2013 listete ihn «Forbes» unter den 25 reichsten Prominenten des Landes, zwei Jahre später landete er mit der Serie «Diener des Volkes» seinen grössten Erfolg: einer Politsatire über einen Geschichtslehrer, der nach einer Wutrede auf die ukrainischen Verhältnisse zum Internetstar und quasi über Nacht zum Präsidenten gewählt wird. Korrupte Politiker, die den impulsiven Enddreissiger zu ihrer Marionette machen wollen, werden vom Präsidenten überführt und gefeuert – zur Gaudi eines Millionenpublikums: Auf Youtube wurde die erste Staffel 6,3 Millionen Mal angeklickt, inzwischen wurde sie von Netflix gekauft.
Gemeinplätze ukrainischer Politik
Immer wieder wurde über die politischen Ambitionen des Komikers spekuliert – bis er am Silvesterabend 2018 tatsächlich seine Kandidatur verkündete. Im realen Wahlkampf ist Selenski bisher allerdings nur mit halbherzigen Ansagen aufgefallen, die Gemeinplätze der ukrainischen Politik sind: Annäherung an die EU und die Nato, den Krieg beenden, gegen die Korruption und die Oligarchen kämpfen sowie den Lebensstandard heben. Dass Selenski politisch so vage bleibt, sei Teil seines Erfolgs, schreibt das Warschauer Centre for Eastern Studies: «Selenski muss nichts versprechen, da er ohnehin mit dem Helden seiner TV-Serie gleichgesetzt wird.»
Zwar ist Selenski nicht der erste Fernsehstar, der in die Politik geht – man denke an Ronald Reagan, Arnold Schwarzenegger oder Donald Trump –, «aber noch nie war es so schwer, die Person von der Maske, die Figur vom Kandidaten und den Wähler vom TV-Zuschauer zu trennen», schreibt der britische «Independent». «Es ist nie klar, wo die Figur Holoborodko endet und der Kandidat Selenski beginnt.»
Das Märchen vom ehrlichen Diener
Dass Selenski auf die Konventionen des Wahlkampfs pfeift, scheint viele UkrainerInnen nicht zu stören. Im Gegenteil: Ihnen reicht es, dass er so anders ist als die politische Elite, die das Land seit der Unabhängigkeit 1991 geführt hat, umso mehr nach den Maidanprotesten vor fünf Jahren, an die viele UkrainerInnen so grosse Hoffnungen geknüpft hatten. Krieg, Korruption und Krise – das «neue Leben», das Präsident Poroschenko damals versprochen hatte, hat sich für viele nicht erfüllt. Zwar hat er das Heer modernisiert und konnte als «patriotischer Oberbefehlshaber» an der Front punkten. Doch den UkrainerInnen ist das nicht genug. Der Erfolg Selenskis ist die Rechnung, die Poroschenko für seinen zögerlichen Kampf gegen Korruption kassiert.
Das Märchen vom ehrlichen «Diener des Volkes» ist indes wohl zu schön, um wahr zu sein. Immerhin läuft die Fernsehserie auf dem Sender 1 + 1 des Oligarchen Ihor Kolomojski. Der Multimilliardär aus dem Banken-, Energie- und Fluggeschäft lebte bis 2014 in Genf und wurde nach den Maidanprotesten zum Gouverneur seiner Heimatregion Dnipropetrowsk ernannt, überwarf sich jedoch später mit Poroschenko und wohnt heute in Israel. Ist Selenski also nur sein Hebel, um sich wieder ins Spiel zu bringen?
Kolomojskis Marionette?
Auffällig ist, dass auch angesehene Reformer auf den Selenski-Zug aufgesprungen sind, die unter Poroschenko das Handtuch geworfen hatten, wie der ehemalige Finanzminister Oleksandr Danyljuk, ausgerechnet jener Mann, der 2016 Kolomojskis Privatbank verstaatlichte. Ein Beweis, wie integer das Team des Komikers ist, oder doch nur ein brillantes Alibi?
Im Gespräch argumentiert Danyljuk, Selenski sei der einzige Kandidat, der wirklich für Veränderungen stehe. Anders als Poroschenko, unter dem die Reformen zuletzt stagnierten. Als «Liberaler durch und durch» beschreibt er Selenski, sowohl in wirtschaftlichen als auch gesellschaftlichen Fragen. Doch in seinen Worten liegt auch viel Pragmatismus. «In unseren Medien, die von Oligarchen kontrolliert werden, ist es nun mal sehr schwer, ein völlig neues Gesicht in die Politik zu bringen», sagt er. Aber gerade die Tatsache, dass sich Selenski bereits einen Namen gemacht habe, könnte ihm die nötige Unabhängigkeit sichern, die einem völligen Aussenseiter fehle – bei aller schiefen Optik, die durch den Oligarchensender 1 + 1 entstehe. Und Kolomojski? «Derzeit sehe ich keinen Einfluss», sagt Danyljuk. «Sollte er sich aber einmischen, werde ich das Team sofort verlassen.»
Fakt ist, dass sich Kolomojski selbst sehr wohlwollend über die Kandidatur des Komikers geäussert hatte – und sein Anwalt am Wahlabend in Selenskis Stab mitfeierte. Freilich wird auch Poroschenko nicht müde, Selenski als eine «Marionette Kolomojskis» zu schmähen. Dass das reichen wird, um den Komiker bis zur Stichwahl noch abzufangen, darf bezweifelt werden.
Immerhin hat dem Oligarchen Poroschenko seine eigene Präsidentschaft wirtschaftlich alles andere als geschadet – in der Hauptstadt Kiew sind die neuen Geschäfte des Schokoladenunternehmers nur so aus dem Boden geschossen. «Natürlich gibt es keine Garantien, dass es mit Selenski anders wird», kann man dieser Tage von WählerInnen hören. «Aber die anderen Politiker hatten schon ihre Chance, und sie haben sie nicht genutzt.»