#Digi: Geister hören Musik
Es war nur eine kurze Phase. Sie dauerte einen Sommer. Ich war elf, und wenn meine Eltern einen Sonntagsausflug planten, stellte ich immer die gleiche Bedingung: Wir mussten rechtzeitig zur Hitparade auf DRS 3 zurück sein. Wenn es einer meiner Lieblingssongs in die Top Drei geschafft hatte, machte mich das glücklich.
Das war in den frühen neunziger Jahren, der hohen Zeit der CDs. Ich weiss nicht, wie die Singlehitparade damals zustande kam: Es gab zwar CD-Singles, aber kein Mensch kaufte sie. Es war viel günstiger, ganze Alben auf CD zu kaufen. Vinyl galt als hoffnungslos veraltet, kurz vor dem Aussterben.
Heute ist Vinyl als Nische wieder hip, dafür die CD völlig out. Wer Musik hören will, streamt sie direkt aus dem Netz, und auch die Hitparade folgt den Streams: Sonst wäre sie kaum noch repräsentativ. Ist sie allerdings auch so nicht, wie das Y-Kollektiv, ein von den deutschen Fernsehsendern ARD und ZDF finanziertes Onlinejournalismusteam, kürzlich aufgedeckt hat. Reporter Ilhan Coskun trifft den vermummten «Kai», der sein Geschäftsmodell erklärt: Seine Mitarbeitenden haben Zehntausende Accounts von Streamingdiensten wie Spotify gehackt und lassen darauf Songs in Endlosschlaufe laufen – gegen Bezahlung.
Die Doku wirkt glaubwürdig: eine plausible Erklärung dafür, warum immer wieder völlig unbekannte Deutschrapper – und eine Schweizer Deutschrapperin – über Nacht Millionen von Streams und Klicks erreichen. «Kai» weist nebenbei darauf hin, dass Streamingmanipulationen auch eine lohnende Form von Geldwäscherei seien. «Wir sind alle Teil eines dummen Systems.»
Plattenverkäufe waren noch etwas Handfestes – aber auch sie sagten nichts darüber aus, ob und wie oft die Käuferin die Platte tatsächlich hörte. Was misst eine Hitparade eigentlich? Die Frage ist hochphilosophisch. Auch die Reichweite des Feierabendkrimis misst sich nur am eingeschalteten Sender und erfasst nicht, wie viele Leute auf dem Sofa eingeschlafen sind. Die Streamingmanipulation ist nur eine weitere Geschichte aus der Welt der digitalen Gespenster: Accounts, die Geld generieren, ohne dass es ihre InhaberInnen merken. Musik hören braucht Zeit – und wenn die KonsumentInnen fehlen, die diese Zeit haben, spielen die Geräte die Songs halt sich selbst vor.