Asylpolitik: «Unter der Erde fällt das Atmen schwer»
Stickige Luft, kein Tageslicht, keinen Rappen, kaum Bewegungsfreiheit: Die Insassen im Asylbunker im Tessiner Dorf Camorino wehren sich gegen unerträgliche Zustände.
Am Rand einer kleinen grünen Wiese zwischen Autobahn, grosser Polizeiwache und Verkehrsamt steht ein unauffälliges Metallgeländer. Dieses markiert die Stelle, von der ein schmaler Weg ins Erdinnere hinabführt. Der Eingang zum Asylbunker könnte versteckter kaum sein. Zwei Securitas-Angestellte patrouillieren über das unwirtliche Gelände und beäugen uns aus der Ferne. Willkommen sein fühlt sich anders an. Die vom Kanton Tessin und bis vor kurzem auch vom Roten Kreuz verwaltete Asylunterkunft gehört zu Camorino, einem Ortsteil von Giubiasco bei Bellinzona.
Nach und nach tauchen vier Männer aus dem Boden auf. Sie sind bereit zu reden. «Wir sind Menschen, die an einen Ort gebracht wurden, damit man uns vergisst. Wir möchten leben, aber ich fühle mich wie tot», sagt Berhanu Bikila*. Der 28-jährige Äthiopier ist seit knapp vier Jahren in der Schweiz.
Die Abgewiesenen
Am Montag, 24. Juni traten über dreissig Asylsuchende in Camorino aus Protest gegen ihre Lebensbedingungen zwei Tage lang in den Hungerstreik – das sind praktisch alle damaligen Bewohner. Ein Protestfoto mit zwölf von ihnen hat in Tessiner Medien sowie in der deutschsprachigen Ausgabe von «20 Minuten» für Aufsehen gesorgt. Einen Tag darauf verlegte der Kanton in Absprache mit dem Roten Kreuz alle Insassen, die sich in einem laufenden Asylverfahren befanden, in andere Unterkünfte und Wohnungen im Tessin. Im Bunker geblieben sind sieben Männer, die von der Schweiz abgewiesen wurden – und zwischen deren Herkunftsländern und der Schweiz teilweise keine Rücknahmeabkommen bestehen.
Youssef Farès* lebt seit einem Jahr in Camorino. Der 24-jährige Marokkaner sagt: «Wegen der abgestandenen Luft unter der Erde fällt das Atmen im Bunker schwer.» Das Wasser sei gelblich und nicht trinkbar. Seit einem Jahr überwacht die Sicherheitsfirma Securitas SA den Asylbunker im Auftrag des Kantons Tessin. Vor knapp zwei Jahren übernahm die Tessiner Sektion des Roten Kreuzes die Verwaltung des Zentrums. Bis am 24. Juni sei diese vor Ort gewesen, um eine minimale medizinische Versorgung zu gewährleisten, sagt Farès. Am ersten Tag des Hungerstreiks wurde die Unterstützung der Verbliebenen in Camorino aber beendet, wie Ursula Luder, Kommunikationsbeauftragte des Schweizerischen Roten Kreuzes, auf Anfrage bestätigt. Das Rote Kreuz kümmere sich um Asylsuchende in einem laufenden Verfahren. Für die Abgewiesenen in Camorino sei der Kanton nun alleine zuständig.
«Die vier Securitas-Angestellten geben uns täglich einen knappen Liter Wasser, ein Stück Brot mit Marmelade zum Frühstück, ein Stück Brot mit Käse zur Mittagszeit und ein Abendessen», sagt Farès. Manchmal falle eine Mahlzeit aus, einfach so. Aber das Schlimmste seien der Stress und die Ungewissheit, was als Nächstes passiere. «Da unten stinkt es nach Fäkalien und auslaufendem Gas. Wir haben Angst, dass der Bunker jeden Moment explodiert. Experten, die kürzlich da waren, meinten, wir müssten ganz schnell fliehen, wenn der Alarm wegen des Gases losgehe», erzählt der junge Mann und wirkt ratlos: Wie sollte denn im Fall einer Explosion noch Zeit zur Flucht bleiben?
Trotzdem schlafen zurzeit sieben Menschen täglich in dem Loch im Boden, das einst zu militärischen Zwecken gegraben wurde, weil ihnen die Tessiner Migrationsbehörde nichts anderes bieten will. Anders als in anderen Kantonen erhalten sie nicht einmal minimalste finanzielle Nothilfe.
Heute muss Youssef Farès zum Zahnarzt in Bellinzona. Er glaubt aber, dass er Giubiasco nicht verlassen darf. Da die Anweisungen nur mündlich und auf Italienisch kommuniziert werden, kommt es zu vielen Missverständnissen und Unklarheiten bei den Bewohnern.
Samuel Hailemariam*, 32 Jahre alt, ursprünglich aus Eritrea und seit anderthalb Jahren in Camorino untergebracht, erzählt: «Vom Hungerstreik erhoffte ich mir, dass der Bunker innerhalb einer Woche geschlossen würde.» Unter den Zurückgebliebenen sei ein 48-jähriger Algerier, der seit einem Monat nur noch im Bett liege und bloss aufstehe, um zur Toilette zu gehen, erzählt Hailemariam. Ohne Geld, ohne Bewegungsfreiheit und ohne die Aussicht auf neue Kleider, Aktivitäten und soziale Kontakte bleibe ihnen noch das vorgeschriebene Essen, Spazieren und Schlafen: Das fühle sich an wie im Gefängnis.
Das Collettivo R-esistiamo engagiert sich seit letztem Jahr für die Schliessung des Bunkers. Es hat im Frühjahr eine entsprechende Petition eingereicht. Dabei beruft es sich auf ein Dokument der Nationalen Kommission zur Verhütung von Folter von 2014, das eine maximale Aufenthaltsdauer von drei Wochen in einem unterirdischen Raum vorsieht. Vor allem die schlechte Luftqualität und das Fehlen von Tageslicht seien für die körperliche und mentale Gesundheit besonders riskant. Mehr als hundert im Tessin arbeitende ÄrztInnen haben die Petition innert kurzer Zeit unterschrieben.
Renato Bernasconi vom kantonalen Departement für Gesundheit und Soziales pflegt eine andere Sicht auf die Dinge: «Alle Grundbedürfnisse der abgewiesenen Asylsuchenden in Camorino, insbesondere Unterkunft, Verpflegung sowie Gesundheitsversorgung sind seitens des Kantons abgedeckt, daher wird kein Bargeld ausbezahlt», sagt er. Mittags bekämen die Leute ein Lunchpaket, das zwei Sandwiches, zwei Halbliterflaschen Wasser, einen Apfel und einen Snack beinhalte. «Wenn sie mehr wollen, können sie jederzeit nach mehr Wasser fragen.» Einen kausalen Zusammenhang zwischen der Verlegung von über zwanzig Personen im Asylverfahren mit dem Hungerstreik streitet er ab.
Von einer kranken Person, die seit einem Monat nicht mehr nach draussen gegangen sei, wisse er nichts. Ebenso wenig gebe es ein Gasleck. Auf die Frage, wieso es nicht möglich sei, auch die wenigen verbliebenen Menschen in würdigen Unterkünften unterzubringen, antwortet er: «Die Unterkunft ist auch bei uns ein wichtiges Thema. Die nötige Infrastruktur ist noch nicht vorhanden, aber wir bauen ein neues Zentrum in Camorino.»
Permanenter Schwebezustand
Kenan Tannoudji* lebt seit sechzehn Jahren in der Schweiz. Der 45-jährige Algerier sagt, er habe seit seiner Ankunft noch nie in einer Wohnung, sondern nur in Tessiner Asylunterkünften gewohnt. «Die Behörden haben meinen Fluchtgrund als politischer Aktivist nicht akzeptiert, weil es keinen Krieg gab. Doch Algerien wollte mich auch nicht zurücknehmen.» So ist sein Fall exemplarisch für Tausende abgewiesene Asylsuchende, die sich in einem permanenten Schwebezustand zwischen zwei Ländern befinden, ohne in der Schweiz jemals wirklich Fuss zu fassen. Weder hier noch dort willkommen. «Der Kanton hat es geschafft, die Öffentlichkeit auf unsere Kosten zu beruhigen. Es kann nicht sein, dass man uns weiterhin wie Tiere behandelt. Dieser Skandal muss endlich aufhören.»
* Alle Namen geändert.