Flüchtlingsbetreuung durch die ORS Service AG: Profiteure des Elends

Nr. 8 –

Wenn beim warmen Wasser für Flüchtlinge im Kanton Zürich gespart wird, profitieren LehrerInnen in Kalifornien: Die Firma ORS, die für den Kanton Zürich Notunterkünfte betreibt, gehört einer Beteiligungsgesellschaft mit Sitz in London. Derzeit verweigert die ORS als Kollektivstrafe allen RechtsberaterInnen den Zutritt zu ihren Zentren.

Wir stehen draussen im Regen vor der Notunterkunft für Flüchtlinge in Uster. Es ist Freitag, und der Chef der Unterkunft sagt, dass wir nicht willkommen seien, dass auf dem Gelände der von der ORS geführten Anlage, im unterirdischen Bunker und im Aufenthaltsraum, einem kleinen Container ausserhalb, keine Rechtsberatung mehr stattfinden dürfe.

Die RechtsberaterInnen der Freiplatzaktion und der Autonomen Schule, die hier wöchentlich die Flüchtlinge beraten, hatten uns gewarnt, dass wir wahrscheinlich nicht hineingelassen würden. Es war eine Kollektivstrafe: Eine Woche zuvor hatte die im Asylbereich engagierte SP-Nationalrätin Mattea Meyer die RechtsberaterInnen begleitet und später auf Facebook einen Post verfasst, der auf einen WOZ-Artikel verlinkte, in dem Regierungsrat Mario Fehr kritisiert wurde. Mit Verweis auf die vom Kanton erlassenen Eingrenzungen und Meldepflichten in Notunterkünften schrieb Meyer: «Es ist ein Armutszeugnis für einen Kanton, den Menschen, die weder Privatsphäre noch Perspektive noch Papiere besitzen, das letzte Stück an Würde und Freiheit zu nehmen.»

Einen Tag später wurde der Freiplatzaktion von einem ORS-Mitarbeiter mitgeteilt, man habe mit diesem Verhalten das Gastrecht missbraucht. Und der Chef vor Ort lässt nicht mit sich reden: «Ihr dürft hier nicht rein. Ich muss euch nicht erklären, warum. Wenn ihr nicht geht, rufen wir die Polizei.»

Kaltes Uster, sonniges Kalifornien

Wir verlassen das Zentrum und starten die Rechtsberatung im Aufenthaltsraum ausserhalb des Zentrums, einer Containerbaracke. Wir können nicht lange bleiben. «Verschwindet jetzt bitte», sagt der Zentrumsleiter. Draussen regnet es in Strömen. Im Eingang des Zentrums weist ein Schild die Asylsuchenden darauf hin, dass sie Gäste der Schweiz sind und sich anständig benehmen sollen, um «gemeinsam ein angenehmes Zusammensein zu ermöglichen». Wir stehen zu zehnt im Regen, und vom Schreiben und Unterschreiben frieren der Rechtsberaterin Eva Maria nach einer Stunde fast die Finger ab. Wir fragen uns angesichts dieser Schweizer Gastfreundlichkeit, ob in Kalifornien wohl gerade die Sonne scheint.

Denn am Ende hat der Umstand, dass wir in Uster die Notunterkunft nicht betreten dürfen und uns somit womöglich nicht kritisch zu den Zuständen in den engen Notunterkünften äussern können – in Uster zum Beispiel gibt es seit Januar kein warmes Duschwasser beziehungsweise seit Februar wieder ein kleines bisschen warmes Wasser –, am Ende also hat all das auch mit dem Wohlergehen der LehrerInnen in Kalifornien zu tun. Denn die ORS Service AG, eine seit 1992 in der Schweiz tätige Firma, die mit der Betreuung von Flüchtlingen im Jahr 2015 85 Millionen Franken umsetzte, gehört der in London ansässigen Beteiligungsgesellschaft Equistone Partners Europe Limited. Wie bei jeder Private-Equity-Firma geht es darum, die aufgekauften Unternehmen nach ein paar Jahren mit möglichst hohem Gewinn weiterzuverkaufen. Einer der institutionellen Anleger der Gesellschaft ist der Pensionsfonds der kalifornischen LehrerInnen. Oder das Versicherungsunternehmen Allianz. Auch eine Schweizer Pensionskasse ist an Equistone beteiligt: Die Personalvorsorgestiftung der Ärzte und Tierärzte (PAT-BVG) hat eine halbe Million Franken investiert.

Der Kanton Zürich hat aus der Not von Menschen eine lukrative Kapitalanlage gemacht. Die ORS wächst unaufhörlich – und zwar über die Landesgrenzen hinaus. 2012 expandierte die Firma nach Österreich, und auch dort agiert der Staat als Türöffner: Er vergab das Betreuungsmandat für fünf Bundeseinrichtungen an die Tochter ORS Service GmbH. Mittlerweile betreut die ORS mit rund 800 MitarbeiterInnen fast vierzig Unterkünfte für den österreichischen Bund und einzelne Bundesländer. Der Umsatz verdreifachte sich allein zwischen 2014 und 2015 von 23,2 auf 66,6 Millionen Euro. Der Gewinn verdoppelte sich im selben Zeitraum auf 2,5 Millionen Euro. Seit 2014 versucht die ORS, auch in Deutschland Fuss zu fassen, wo der Umsatz von etablierten Firmen im Flüchtlingsgeschäft im dreistelligen Millionenbereich liegt.

Billigkräfte statt SozialarbeiterInnen

Gegründet wurde die ORS 1992 von Willy Koch, der zuvor Generaldirektor der Personalvermittlungsfirma Adia (heute Adecco) war. Koch realisierte, dass mit dem Ausbruch des Jugoslawienkriegs viele Flüchtlinge in die Schweiz kommen würden und die bestehenden Strukturen dafür nicht ausreichten. Besonders auf personeller Ebene. Koch bot dem Bund für die Betreuung der Empfangszentren in Basel, Kreuzlingen, Chiasso und Carouge Personal an, das kurzfristig einsetzbar war – und vor allem günstiger als jenes der Konkurrenz. In Carouge unterbot die ORS die Genfer Organisation Chérane, einen Zusammenschluss von Rotem Kreuz, Heilsarmee und weiteren Hilfswerken, um 85 000 Franken pro Jahr.

Dieser Vorgang wiederholte sich mehrmals. Exemplarisch dafür ist die Vergabe des Betreuungsmandats für Asylsuchende im Kanton Freiburg im Jahr 2008. Die ORS sicherte sich den Auftrag mit einer 4,1-Millionen-Franken-Offerte, die rund zwanzig Prozent günstiger war als jene des Roten Kreuzes, das diese Aufgabe im Kanton Freiburg zuvor während 24 Jahren übernommen hatte.

«Die Margen sind sehr tief. Ein entscheidender Faktor ist die Menge», sagte Willy Koch dem «Wall Street Journal» vor zwei Jahren. Den wichtigsten «Erfolgsfaktor» der ORS nannte der gelernte Lebensmittelverkäufer nicht: Die mit Abstand grössten Ausgaben verursachen die Personalkosten. «Die Firma sucht keine qualifizierten Sozialarbeiter. Stattdessen beschäftigt sie Arbeitslose verschiedenster Berufsgattungen, nicht zuletzt aus den regionalen Arbeitsvermittlungszentren», schrieb 1999 das Schweizer Magazin «Facts». Hilfswerke kritisieren seit über zwei Jahrzehnten, dass die Qualität des Personals die entscheidende Kostendifferenz ausmache.

Heute ist die ORS die grösste Akteurin im Bereich der Flüchtlingsbetreuung. Ende der neunziger Jahre beschäftigte die Firma noch 250 MitarbeiterInnen und setzte zehn Millionen Franken um. Heute arbeiten über 600 Angestellte für die Firma: in mehreren Bundeszentren, in den sechs Kantonen Aargau, Bern, Basel-Stadt, Freiburg, Solothurn und Zürich sowie in über vierzig Gemeinden. Wie viel Gewinn beim Umsatz von 85 Millionen Franken 2015 heraussprang, hält die ORS geheim.

Entscheidend für den Aufstieg der gewinnorientierten Aktiengesellschaft im mit Steuergeldern finanzierten Bereich der Flüchtlingsbetreuung war das Staatssekretariat für Migration (SEM). Zwei Jahrzehnte lang erhielt die ORS vom SEM sämtliche Bundesaufträge für die Betreuung von Asylsuchenden ohne öffentliche Ausschreibung – was erst 2012 bekannt wurde. Seither muss auch die ORS an Ausschreibungen teilnehmen.

Die Vormachtstellung ist jedoch längst gesichert – denn das SEM ist die wichtigste Referenz der Firma. So erhielt die ORS 1992 ihr erstes kantonales Mandat in Baselland aufgrund der «überzeugenden Referenz» des damaligen Bundesamts für Flüchtlinge, wie die «Basler Zeitung» 1997 schrieb. Ein Mitte Februar 2017 in derselben Zeitung erschienener Artikel stellte diese Referenz erheblich infrage: In einem von der ORS betreuten Zentrum im basellandschaftlichen Aesch kam es 2016 laut internen Protokollen, die der «Basler Zeitung» vorliegen sollen, unter anderem zu Kollektivstrafen. Wenn ein Bewohner eines Massenschlags von fünfzehn Personen frühmorgens sein Bett nicht gemacht hatte, seien alle Bewohner des Schlags ganztags «gesperrt» worden, hätten also den Bunker nicht verlassen dürfen. Das SEM dementierte für die ORS.

Wettlauf der Verschärfungen

Die Zutrittsverweigerung für RechtsberaterInnen ist nach den Eingrenzungen und der Pflicht, sich zweimal täglich im Zentrum zu melden, ein weiterer Eskalationsschritt im Umgang mit abgewiesenen AsylbewerberInnen – in einem Verschärfungswettlauf, in dem der Kanton Zürich und der verantwortliche Regierungsrat Mario Fehr (SP) eine treibende Rolle spielen. Es waren die Eingrenzungen für abgewiesene Asylsuchende auf ihre Wohngemeinde vom Sommer 2016, die dazu führten, dass Rechtsberatungen immer häufiger in den Zentren stattfinden mussten. Durch die Eingrenzung konnten die Leute nicht mehr in die Stadt Zürich reisen, wo sich die Büros der Rechtsberatungen befinden. Wenn jetzt die RechtsberaterInnen die Notunterkünfte nicht mehr betreten dürfen, bedeutet das, dass die bereits erschwerten Rechtsberatungen nur noch an improvisierten Orten im öffentlichen Raum stattfinden können.

SP-Nationalrätin Mattea Meyer, die mit dieser Kollektivstrafe für ihre Kritik auf Facebook exemplarisch zum Schweigen gebracht werden sollte, sagt: «Die Praxis der ORS streicht letztlich eine grundsätzliche Problematik hervor: Es ist extrem bedenklich, dass der Staat einen Auftrag, der mit verletzlichen Menschen zu tun hat, an eine gewinnorientierte Aktiengesellschaft vergibt. Einerseits machen Firmen wie die ORS auf Kosten dieser Menschen Gewinne. Andererseits stellen sie mit der rigoros umgesetzten Meldepflicht oder der Erschwerung der Rechtsberatung willkürliche Regeln auf, die die verletzlichen Menschen noch verletzlicher machen und ihre Grundrechte einschränken.»

Die ORS rechtfertigt die plötzlichen Hausverbote gegenüber der WOZ, also die angemeldeten Besuche der Rechtsberaterinnen, mit «der Privatsphäre und dem Persönlichkeitsschutz der Bewohner». Man sei aber bereit, «Hand zu bieten, um rechtliche Einzelberatungen zu ermöglichen».