Kost und Logis: Ein Kuchen für hundert Franken
Bettina Dyttrich sammelt Höhenmeter im Tessin
Vor neunzehn Jahren war ich dort oben. An einem dieser wilden Hänge, wo bei jedem Schritt zwanzig Heuschrecken aufspringen, alte Steintreppen in die Wolken führen und Geissen aus dem Nichts auftauchen. Ich half K. und R. auf der Alp. Eigentlich war das gar nicht nötig, es war schon Ende Sommer, die Geissen gaben nicht mehr viel Milch. Wir hatten Zeit, oben an der Waldgrenze Heidelbeeren zu sammeln. K. backte aus Beeren und Ziegenmilchquark einen grossartigen Kuchen und berechnete, dass er bei einem anständigen Stundenlohn dafür mindestens hundert Franken verlangen müsste. Der Bauer, G., hatte ein Zitat von Herbert Marcuse aufgehängt, es ging um die Stille als politischen Faktor. Jedes Mal, wenn er auftauchte, dröhnte bald die Motorsäge.
Jetzt stehe ich auf der anderen Talseite und schaue hinüber an den Hang von damals. Soviel ich weiss, weiden dort immer noch Ziegen. Wir sind unterwegs vom Maggiatal in die Leventina. Die bestossenen Alpen sind selten geworden – da ein paar Rinder, hoch oben in den Felsen ein paar Schafe, bedroht vom Wolf. Alpenrosen überwuchern die Weiden.
Ich finde das schade – aber natürlich sind die wilden Täler nur deshalb wild geworden. Weil die Berglandwirtschaft im Maggia- und Verzascatal praktisch zusammengebrochen ist, hat niemand Alpstrassen gebaut. Im unteren Maggiatal hört die befahrbare Zone auf 300 Metern über Meer auf. Weiter gehts auf Steintreppen, durch knorrigen Kastanienwald, höher oben im Schatten alter Buchen. Dann, auf etwa 1400 Metern, hören die Laubbäume abrupt auf, und die Lärchenzone beginnt. Als würde ein Film gewechselt: Jetzt sieht es nach Hochgebirge aus und riecht nach Alpenrosen.
Es gibt mehr Wegweiser als vor neunzehn Jahren – und mehr Hütten, in denen man übernachten kann. Ehemalige Alphütten, ausgestattet mit Gasherd, Spaghetti, Pelati und Merlot, immer häufiger sogar mit warmen Duschen. Voll werden sie trotzdem selten – der Massentourismus ist bei einem Aufstieg von 1000 bis 1500 Höhenmetern zwangsläufig beschränkt. Oben bleiben ist möglich, aber anspruchsvoll: Die beiden «alte vie» Maggia und Verzasca sind blau-weiss markiert, also Klettereien mit Absturzgefahr. Auf unseren Querwegen mit den vielen Höhenmetern ist hingegen fast niemand unterwegs. Manchmal eine Viper, ein Murmeltier oder ein Schaf.
Nach vier Tagen, nach einem Abstieg von 1700 Höhenmetern, kommen wir in einen Talkessel, in dem fünf Bäche zusammenfliessen. Wasserfälle bilden Becken in allen Grössen. Auch hier überwuchern Adlerfarn und Mehlbeersträucher die alten Weiden, irgendwann wird das Unterholz dicht und dunkel sein, aber jetzt sieht es fast aus wie in einem romantischen englischen Landschaftspark. Wir baden lange, ganz allein, und ich bin eigentlich ganz froh, dass das Nationalparkprojekt in der Region nicht durchgekommen ist. Sonst stünden hier sicher überall Infotafeln.
Bettina Dyttrich ist WOZ-Redaktorin. Mehr über ihr Lieblingstier lesen Sie auf den Seiten 15–17 («Geissen für Zürich» ).