Flüchtlingspolitik: Ein Spiel um Leben und Not

Nr. 35 –

An der bosnisch-kroatischen Grenze campieren mehrere Hundert Geflüchtete auf einer ehemaligen Müllkippe mitten im Wald. In Sichtweite: die EU – und alles, was sie verspricht.

«Du gewinnst, oder du verlierst. Wenn du gewinnst, findest du einen Weg, die Grenze zu überqueren»: In Vucjak warten Geflüchtete auf die Essensausgabe.

«Der Dschungel», sagen die Geflüchteten, wenn sie von Vucjak im Nordwesten Bosniens und Herzegowinas sprechen. Mitten im Wald unweit der Stadt Bihac steht das Camp, auf einem Gelände, das einmal eine Mülldeponie war. Hier gibt es keine Wasserleitung und keinen Strom. Aufgeplatzte Müllsäcke liegen neben dem Waschcontainer. Es riecht nach gebratenem Fleisch. Im Schatten der Zelte warten die Männer darauf, dass es endlich losgeht.

Subhan Salihi will weg von hier. Die Polizei habe ihn in einem Zug aufgegriffen und in Vucjak abgesetzt, erzählt er. 24 ist Salihi erst und hat schon graue Strähnen. In den letzten zehn Monaten hat er kaum einen Moment geruht. Es war Oktober, als er Afghanistan verliess.

Es ist Mittagessenszeit in Vucjak. Etwa 200 Männer drängeln sich hinter der Absperrung. Aus grossen Töpfen dampft es. Subhan Salihi ist aufgeregt, was nicht an der Tagesspeise liegt: Pasta mit Fleischsosse. Von der Essensschlange aus blickt er auf einen Gebirgskamm. Dahinter liegt Kroatien. Die Europäische Union ist in Sichtweite – und alles, was sie verspricht: Bildung, Wohlstand, in erster Linie aber: Sicherheit.

Wie Kompasse im Dickicht

Vier Stunden dauere der Marsch, hat Salihi erfahren. Viele der Männer, die mit ihm in der Essensschlange stehen, werden heute aufbrechen. Nachts werden sie sich im Wald verstecken und schlafen. Zum Morgengrauen versuchen sie, die grüne Grenze zu überqueren. Nur noch ein paar Tage, dann wird auch Salihi losziehen.

«Eigentlich ist es ein Spiel», sagt er. «Du gewinnst, oder du verlierst. Wenn du gewinnst, findest du einen Weg, die Grenze zu überqueren.»

Subhan Salihi

«You go game?», fragen die Männer in Vucjak. Es ist wie ein Codewort, das übersetzt bedeutet: Versuchst du, illegal über die Grenze zu kommen? Das Ziel: nicht von der kroatischen Grenzpolizei erwischt zu werden. Bis zu 150 Geflüchtete marschieren jede Nacht mit Rucksäcken und Schlafsäcken ausgerüstet Richtung Gebirgskamm, entlang der Landstrasse, die Gesichter angestrahlt von ihren Smartphones. Kompasse im Dickicht der bosnischen Wälder.

Seit zwei Jahren ist der Kanton Una-Sana ein Hotspot der sogenannten Balkanroute. Das Rote Kreuz in Bosnien spricht von 10 000 Geflüchteten, die Bihac seit Anfang des Jahres passiert haben. Laut der Stadtregierung sollen sich derzeit zwischen 3000 und 4000 Personen hier aufhalten. Die Asylquote liegt bei fünf Prozent. Viele wollen weiter. Doch beim Grenzübertritt werden die geflüchteten Menschen von der kroatischen Polizei aufgegriffen und in den fünf Camps abgesetzt. In Transitorten wie Vucjak, wo das Spiel wieder von vorne beginnt. Manche haben es schon über ein Dutzend Mal probiert.

Fragt man Subhan Salihi, was er will, sagt er: «Ich versuche mein Bestes, um ein Leben zu haben.» Obwohl er genau das in Afghanistan hatte: Salihi studierte gerade, Buchhaltung und Computerwissenschaften. Dann sei etwas passiert, sagt er leise. Er könne nicht darüber sprechen. Nur so viel: «Keiner verlässt seine Heimat ohne Grund.» Salihi dreht einen schwarzen Ring an seinem Finger, das Einzige, was er aus seiner Heimat mitgenommen hat.

Wäre es in Kabul sicher gewesen, wäre er niemals fortgegangen. Zurück lässt er seine sechs Geschwister. Das Smartphone ist der einzige Kontakt zu ihnen. Telefonieren sie, sagt er, es gehe ihm gut. Was er nicht erzählt, ist die Sache mit dem Spiel. Und er spricht auch nicht über die gewaltvollen Vorfälle an der kroatischen Grenze, wie erst gestern: Vier seiner Freunde wurden an der Grenze gefasst.

Dokumente des Leidens

Was da passiert, nennt die kroatische Regierung «Einreiseverweigerung», humanitäre Organisationen bezeichnen es als Pushbacks. Amnesty International wiederum spricht von einer Menschenrechtsverletzung. Und in den Medien ist die Rede von «illegalen Massenausschaffungen». Die VerliererInnen sind die Geflüchteten, die von der kroatischen Grenzpolizei zurückgedrängt werden. Sie müssen zwanzig Kilometer zurücklaufen, oft nur in Unterhosen, gedemütigt und verprügelt, das Handy zerstört, die Schuhe und der Schlafsack verbrannt, vor ihren Augen. Von maskierten und schwarz gekleideten Grenzbeamten erzählen die CampbewohnerInnen in Vucjak. Ähnliche Bilder zeigte im Winter auch eine versteckte Kamera an der Grenze zu Kroatien. Das anonymisierte Material wurde der Organisation Border Violence Monitoring zugespielt.

Seit 2017 dokumentiert die NGO physisches Leiden. Über 500 Fälle von Polizeigewalt hat sie seither belegt. Das Problem sei eine Mischung aus struktureller Gewalt und mangelnder medizinischer Versorgung, sagt Chandra Esser. Sie kommt aus Deutschland und arbeitet im bosnischen Grenzort Velika Kladusa für die Organisation.

Familien sieht Esser nur im Sommer. Für sie sei die Situation während der kalten Jahreszeit besonders hart. Manche Gruppen würden anders behandelt, wenn Frauen und Kinder unter ihnen seien, weiss die NGO-Mitarbeiterin. Viele Grenzbeamte aber verschonen auch diese nicht.

Kein Platz für Familien

Wie viele Frauen und Kinder sich in Una-Sana aufhalten, kann das Rote Kreuz nur schätzen. Die Quote von allein reisenden Frauen liegt bei eins bis drei Prozent. In vielen Lagern gibt es keine einzige Frau, dafür eine Dunkelziffer an unbegleiteten Minderjährigen. Erst gestern, erzählt Chandra Esser, habe ein Grenzbeamter zu einem Minderjährigen gesagt: «Du lügst. Du bist kein Kind.» Dann habe er ihn geschlagen. Kein Einzelfall.

Die kroatische Regierung äussert sich meistens nicht zu den Vorwürfen. Im Juli aber sagte Präsidentin Kolinda Grabar-Kitarovic gegenüber dem Schweizer Fernsehen: «Natürlich gibt es ein bisschen Gewalt, wenn man Menschen ausschafft. Mir wurde vom Innenminister, vom Polizeichef und von den Polizisten vor Ort immer wieder versichert, dass sie nicht zu viel Gewalt anwenden.»

Von der politischen Debatte bekommen Hazim Farhan und seine sechsköpfige Familie nichts mit. Der Vater, seine Frau und die vier Kinder sitzen am Strassenrand, wenige Kilometer von Velika Kladusa entfernt. Autos rauschen an ihnen vorbei. Auf der gegenüberliegenden Strassenseite stehen Einfamilienhäuser mit Vorgärten. Eine Schafweide, darauf ein Schild mit der Aufschrift «Nicht betreten». Auf dieser Seite liegt das alltägliche Leben. Aber Hazim Farhan und seine Familie bekommen zu spüren, dass hier kein Platz für sie ist. Vor Läden in Velika Kladusa hängen Schilder wie: «Kein Eintritt für Migranten.»

Auf ihrer Strassenseite befindet sich das Flüchtlingscamp Miral in einer ehemaligen Fensterfabrik. 600 Männer haben hier Platz, aber keine Frauen und Kinder. «Kein Eintritt», hiess es für die sechsköpfige Familie auch hier. Die nächste Unterkunft für Familien liege einen zehnstündigen Fussmarsch entfernt, erzählt Mutter Akbahl Sabri. Seit Tagen schlafen sie draussen. An diesem Mittag ruhen sie sich aus, angelehnt an eine eingerissene Mauer. Die Familie floh vor dem Krieg im Irak. Die Sicherheit, die sie in Europa erwartete, sieht in der Realität anders aus.

Sie sind seit sechs Monaten in Bosnien. Sechs Mal hätten sie schon versucht, über die Grenze zu kommen: «Wir waren so viele Tage unterwegs, am Ende kam die Polizei, nahm unsere Sachen und schlug uns», sagt Farhan. Müde lehnt die Tochter in seinem Schoss. Für die Kinder sei die Flucht besonders hart, erzählt die Mutter. Stundenlanges Marschieren, bis zu zehn Tage im Wald. Kratzspuren ziehen sich über die Beine ihres Sohns. Von einem Spiel sprechen sie nicht mehr.

Unterdessen wartet Subhan Salihi auf die Dämmerung. Im Schneidersitz beobachtet er eine Gruppe Männer, die Cricket spielen. Für ihn ist es in dieser Nacht so weit. Er hat seinen Rucksack gepackt, Wasser, Brot, Snacks.

«Dieses Spiel ist nicht so einfach», sagt Salihi. «Nicht wie Cricket oder Fussball. Ich werde mein Bestes versuchen, um etwas aus meinem Leben zu machen.»

Er will weiterstudieren, in Deutschland oder Italien, wenn er gewinnt. Wenn er verliert, werden sie ihn nach Bosnien zurückschaffen, und er wird es wieder versuchen. Er hofft nur eines: «Ich will nicht der Polizei in die Quere kommen und nicht deportiert werden.»

Fragt man Salihi, ob er Angst habe, sagt er Nein. Er hat keine andere Wahl, als das Spiel mitzuspielen.