Balkanroute: Nicht bleiben, nicht weiterkommen

Nr. 21 –

Seit zwei Jahren ist die Balkanroute geschlossen. Doch noch immer sind Tausende MigrantInnen in der Region. Vor allem in Bosnien-Herzegowina ist die Lage dramatisch.

Die Schlange steht am Rand des leeren Bahnhofsvorplatzes. Fünfzig oder sechzig Menschen, nur als Silhouetten zu erkennen, warten im schwachen Schein einiger Laternen auf einen Plastikteller Reis. Es ist kurz nach 21 Uhr. Aus dem Kofferraum eines weissen Autos holen HelferInnen Nahrungsmittel und verteilen diese an die Wartenden. Gegessen wird in kleinen Grüppchen, kauernd auf dem Boden.

Warteschlangen bei der Essensausgabe, solche Bilder erinnern an die Städte Südosteuropas im Herbst 2015 und dem darauffolgenden Winter. Die Szene hier aber spielt sich in diesem Mai ab. In Sarajevo, der Hauptstadt Bosnien-Herzegowinas, ist die Flüchtlingskrise nicht Vergangenheit. Sie hat gerade erst begonnen.

Ein schmaler junger Mann aus Pakistan sitzt mit vier anderen auf einem Bordstein. Rahim* beugt sich über seine erste Mahlzeit an diesem Tag. Er trägt eine leichte Jacke und ein Tuch um den Hals. Mehr hat er nicht, auch nicht in den Nächten, die immer noch kalt sind. Er übernachtet in einem Park im Zentrum, ohne Zelt und ohne Schlafsack. «Schau mich an», sagt Rahim, «ich habe seit drei Nächten nicht geschlafen.» Zuvor war er mit seiner Gruppe drei Tage lang zu Fuss unterwegs, von Serbien aus über die Grenze. Nun will er weiter, bis nach Kroatien.

Gewaltsame Push-backs

Mit dem Deal, den die EU mit der Türkei geschlossen hat, und den Grenzschliessungen im Frühjahr 2016 in Slowenien, Kroatien, Serbien und Mazedonien wurde die sogenannte Balkanroute abgeriegelt. Was nicht bedeutet, dass sich keine geflüchteten Menschen mehr in der Region aufgehalten hätten. Mehrere Tausend sassen fest, vor allem in Serbien. Verzweifelt versuchten sie, ein Schlupfloch in die EU zu finden, nach Ungarn oder Kroatien, doch in den allermeisten Fällen wurden sie von Grenzbeamten aufgegriffen und gewaltsam zurück nach Serbien gebracht. Diese Push-backs von Asylsuchenden sind illegal. Doch für das politische Ziel, die Balkanroute endlich zu blockieren, werden sie in Kauf genommen.

Die meisten derer, die sich in diesem Frühjahr nach Bosnien aufmachen, waren in Serbien gestrandet. Viele sind nicht erst seit ein paar Monaten unterwegs, sondern seit Jahren. Rahim etwa, der in Pakistan zur Schule gegangen war, verbrachte seine letzten vier Geburtstage auf einer Odyssee. Heute ist er zwanzig, und endlich ist da ein Ziel am Horizont aufgetaucht: die 900 Kilometer lange Grenze zwischen Bosnien-Herzegowina und Kroatien, bergig und schwer zu sichern. Zudem ist die Polizei auf bosnischer Seite chronisch unterbesetzt.

Der Weg dorthin führt über Sarajevo. Gut tausend Geflüchtete, so die Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM), halten sich in der Stadt auf. Seit Jahresbeginn werden es immer mehr. Wer noch Geld hat, kann sich ein billiges Hotel leisten. Manche werden von BürgerInnen der Stadt beherbergt. Die meisten aber sind an Orten untergekommen, die kurzerhand zum Camp umfunktioniert wurden. Das grösste davon ist der Park mitten in der Hauptstadt, gegenüber dem alten Rathaus, wo auch Rahim und seine Freunde ihr Basislager haben. Der Park ist klein, vielleicht 50 auf 75 Meter. Fast überall stehen Zelte, Mitte Mai sind es rund fünfzig. Mehr als 200 Menschen sind es, die hier schlafen oder es zumindest versuchen, die essen, rasten, warten.

3500 MigrantInnen, so jedenfalls die offiziellen Zahlen der Regierung, wurden seit Jahresbeginn in Bosnien registriert, und es werden immer mehr. Aktuell kommen jede Woche etwa 500 hinzu – dreimal mehr als die Kapazitäten des einzigen Asylbewerberzentrums. Im Park von Sarajevo sind einige HelferInnen mit neongelben Westen dabei, ein Gerüst aus Stangen aufzubauen, für ein grösseres Zelt. Kleinkinder laufen herum, Junge sitzen auf den Bänken, selbst Grosseltern hocken in den Zelteingängen. Immer wieder kommen BürgerInnen vorbei, um Lebensmittel abzugeben. Die Hilfsbereitschaft ist zwar gross, aber die Organisation ist schlecht.

Nidzara Ahmetasevic hat vor dieser Entwicklung lange gewarnt. Die Journalistin gehört zur kleinen Gruppe von Freiwilligen, denen die Situation dieses Frühjahr über den Kopf gewachsen ist. «Es war eine Frage der Zeit, bis die Migranten es in Bosnien versuchen. Alle anderen Wege sind versperrt, die Gewalt an den Grenzen hat immer mehr zugenommen. Dies ist ihre letzte Hoffnung», sagt sie. Seit 2016 hat sie versucht, den Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen (UNHRC) und die IOM auf die Problematik aufmerksam zu machen – vergeblich. Inzwischen erwägt der bosnische Ministerrat, Auffangzentren für die MigrantInnen zu errichten. Für Ahmetasevic steht die Notwendigkeit solcher Massnahmen ausser Frage: «Es gibt im Park weder Duschen noch Toiletten. Die Menschen schlafen in Exkrementen.»

Am vergangenen Freitag liess die Regierung nun das Lager im Park räumen. Fünf Busse brachten knapp 300 Geflüchtete in eine Unterkunft im Kanton Mostar. Die Unterkunft dort ist eine Barackensiedlung, die früher für Arbeitseinsätze der kommunistischen Jugend diente. Sie ist renoviert, die Bedingungen zufriedenstellend, berichtet Ahmetasevic, die sich vor Ort ein Bild gemacht hat. Die übrigen MigrantInnen allerdings sind noch immer in Sarajevo, aus Griechenland werden Zehntausende weitere erwartet – auch wenn die bosnische Regierung angekündigt hat, die Bewachung an den Grenzen zu Serbien und Montenegro aufzustocken.

Eine Kriegsruine bietet Zuflucht

Zumindest bei der IOM hat man die Notlage in der Region inzwischen erkannt. Westbalkankoordinator Peter Van der Auweraert ist permanent vor Ort und drängt die bosnischen Autoritäten zum Handeln. «Wenn es nicht eine sehr kurzfristige Lösung gibt, droht hier eine humanitäre Krise. Wir brauchen eine offizielle Unterbringung. Das würde auch Schutz vor Schmugglern bieten und die medizinische Versorgung und die Hygiene verbessern», sagt er. Die IOM hat Anfang Mai vorläufig selbst eine Unterkunft eröffnet. In Bihac, 300 Kilometer nordwestlich von Sarajevo und keine zwanzig Kilometer von der kroatischen Grenze entfernt. Eine Notlösung, räumt Van der Auweraert ein.

Auf dem Weg zu diesem Provisorium sieht man, warum die Grenze als schwer kontrollierbar gilt. Es ist unwegsames Terrain, dazu erinnern zahlreiche verfallene Häuser an den bosnischen Bürgerkrieg. Was im Übrigen auch auf die Notunterkunft der IOM zutrifft: Diese liegt ganz am Rand der Stadt gegenüber einem Stadion, halb verdeckt von hohen Nadelbäumen, am Fuss eines Berges. Einst war das Gebäude ein Studentenhaus, dann eine Armeekaserne. Die Zerstörungen des Krieges haben daraus wieder einen Rohbau gemacht: nackter Beton mit hohen, leeren Fensteröffnungen.

Weil auch in Bihac immer mehr MigrantInnen irgendwo schliefen, schlugen IOM und Rotes Kreuz dem Bürgermeister vor, hier ein provisorisches Auffanglager zu errichten. Daraufhin wurden Duschen und Toiletten aufgestellt, für Elektrizität gesorgt, die Böden gesäubert, Matratzen organisiert. Nun ist die Kriegsruine ein Zufluchtsort für Geflüchtete. Allerdings ein beklemmender: Überall liegt Abfall herum, keine einzige Treppe hat ein Geländer.

Warten auf die Dämmerung

Bis zur Grenze ist es von hier nicht mehr weit. Zwanzig Kilometer vor der Stadt liegt der winzige Weiler Trzacka Rastela. Kurz hinter dem letzten Haus lagern drei junge Männer unter einem Baum. Die Wiese grenzt an einen Fluss namens Korana, der weder breit noch tief ist. Dahinter beginnt Kroatien. Grenzanlagen sind keine zu sehen. Der Übertritt scheint leicht von hier aus, doch viele haben ihn schon vergeblich versucht. Der Uferstreifen ist gerodet. Die kroatischen Grenzer sind mit Nachtsichtgeräten ausgestattet, mit Helikoptern und Wärmebildkameras.

Die Männer kommen aus Syrien und wollen, wenn es dunkel wird, ihren ersten Versuch wagen. «Auf der anderen Seite müssen wir zwei Kilometer laufen, dann kommt ein Dorf. Wir bräuchten ein Auto, um von dort weiter in Richtung Slowenien zu gelangen, aber das haben wir nicht», seufzt Malik*, der mit seinen roten Haaren und dem Bart aus dem Trio heraussticht. Auf seinem Telefon zeigt er die markierte Route an. Von jenen, die es zuvor schon vergeblich versucht hatten, haben sie gehört, dass die kroatischen PolizistInnen Eingereiste mit Schlägen und Tritten behandeln und sie zurück zur Grenze bringen. Auch, dass sie die Telefone zerstört und SIM-Karten entwendet hätten.

In ein paar Stunden wird es dämmern. Bald danach werden die drei Männer sich aufmachen.

* Namen geändert.