Schützenwesen: Aufrecht im Wind

Nr. 43 –

Durch die Schiessanlässe auf dem Rütli sind Teile der Wiese verseucht. Nur weil das Urner Amt für Umweltschutz ein Auge zudrückte, konnte das diesjährige Pistolenschiessen stattfinden. Besuch an einem aus der Zeit gefallenen Anlass.

908 SchützInnen feuern 13 620 Schüsse ab: Historisches Pistolenschiessen auf dem Rütli. Vorne im Bild die sanierten Bleifänge.

Es riecht nach Chäpslipistolen und Feuerwerk, und laut knallen tut es auch. Aber geschossen wird mit scharfer Munition. Die SchützInnen stehen im Hang, der unterste muss nach schräg oben rechts zielen, um die Zielscheibe zu treffen. Darauf angesprochen, zeigt eine Frau, die hinter ihm die Punktzahl notiert, lachend auf die unebene Wiese: «Schau dir mal den Boden an. So ist das eben hier auf dem Rütli!» Zwei Kinder mit Chindsgistreifen sammeln auf allen vieren die Patronenhülsen vom Boden auf und werfen sie in Plastikeimer. Es ist das 82. Pistolen-Rütlischiessen.

Das «historischste aller Historischen Schiessen», wie Urs Janett, OK-Präsident und Urner Finanzdirektor, in seiner Begrüssungsrede für die Ehrengäste sagt, die sich in einem Lagerraum zwischen Brennholzscheiten und Maschendrahtrollen zum Apéro versammelt haben. Janett, selbst Oberstleutnant, begrüsst sie in seiner Rede fast alle mit Namen – und mit militärischem Grad. Man ist unter sich und duzt sich. Selbst der Major stellt sich mit «Ich bin eifach de René» vor.

Problem Kugelfang

Gekommen ist auch der Urner FDP-Ständerat Josef Dittli, dem die WOZ kürzlich einen Swiss Lobby Award in der Kategorie «Rüstung» verliehen hat. «Pepe», wie ihn hier alle nennen, wird am heutigen Wahlsonntag als einer von zwei Kandidierenden für zwei Sitze in seinem Amt bestätigt werden. Und so lässt er es sich auch dieses Jahr nicht nehmen, aufs Rütli zu kommen, bevor er sich dann ins Wahlbüro verabschiedet. «Die Schützen sind schliesslich ein tragender Teil unserer Gesellschaft.»

Urs Janett – der eher wie der dynamische CEO eines urbanen Start-ups als wie der OK-Präsident eines etwas aus der Zeit gefallenen Anlasses wirkt – kommt nun auf ein Problem zu sprechen: den Kugelfang. 2011 wurden am Zielhang der Rütliwiese die Altlasten saniert und ein extra fürs Rütli konzipiertes mobiles Kugelfangsystem angeschafft, das verhindern sollte, dass die Munition ins Erdreich gelangt – alles auf Kosten des Bundes. Eine Nachmessung zeigte 2016 allerdings erneut zu hohe Bleiwerte im Boden auf. «Das ist ein Zustand, den wir nicht akzeptieren können», sagt Janett, «wir sind hier auf einer speziellen Wiese.» Man habe daher 20 000 Franken in die Verbesserung des Systems investiert. Ein Testschiessen vor zwei Tagen habe gezeigt, dass es nun «verhebet». Man müsse nur noch hier und da etwas nachbessern.

Was Janett nicht erwähnt: Die offiziellen Ergebnisse des Testschiessens liegen noch gar nicht vor. Gemäss altlastenrechtlicher Sanierungsverfügung müsste das Kugelfangsystem einen Wirkungsgrad von 95 Prozent aufweisen. Um diesen zu ermitteln, vergleicht zurzeit ein Labor das Gewicht der benutzten Munition mit jenem der Geschossrückstände. Die Resultate werden erst in zwei bis drei Wochen erwartet. Obwohl der Wirkungsgrad eigentlich schon 2018 hätte nachgewiesen werden müssen, damit das Pistolenschiessen dieses Jahr überhaupt stattfinden darf, hat das Urner Amt für Umweltschutz noch mal ein Auge zugedrückt. Mit den SchützInnen verscherzt man es sich lieber nicht im Urkanton. Und die Anlässe auf dem Rütli sind äusserst beliebt: 908 SchützInnen sowie 600 Gäste und HelferInnen seien heute gekommen, 68 Sektionen habe man eine Absage erteilen müssen, sagt Janett zum Schluss seiner Rede, bevor er mit den Ehrengästen zum Mittagessen im Rütlistadel geht.

Auf der Wiese draussen sind die Picknickdecken längst ausgebreitet, Campingtische und -stühle aufgestellt. Kleinkinder mit Pamir auf den Ohren stolpern dazwischen umher. Die bunten Fahnen der angereisten Pistolensektionen wehen im Wind. Jede hat etwas zu essen mitgebracht: Hobelkäse, Schafswurst, Rüeblitorte, immer wieder Fondue. Zwei Männer tragen einen grossen Sack mit Basler Läckerli umher. Das Essen scheint hier ebenso wichtig zu sein wie das Schiessen.

Ambiente und Rüeblitorte

Hinten am Waldrand hängt der Fonduekessel der Stadtschützen Olten über dem Feuer. Zwei Männer tauchen ihre Brotstücke in den Käse. Der jüngere mit Schweizer Kreuz am Hemdkragen und Bierdose in der Hand war schon öfter hier: «Jedes Mal ein Highlight!», leider erhalte man nur etwa alle vier Jahre eine Zusage. Die beiden schwärmen vom Ambiente und der Rüeblitorte. Die verlorene Abstimmung über die Übernahme der EU-Waffenrichtlinie im Mai ist aber noch längst nicht verdaut.

280 Unterschriften habe er gesammelt, sagt der Jüngere. Und wofür? Dass das Volk am Ende doch noch übers Ohr gehauen worden sei. Sein älterer Kollege mit eindrücklichem Bauch und Schnauz holt aus: Unsere Vorfahren hätten so viel Blut vergossen im Kampf für unsere Freiheit, und nun gebe man sie so leichtfertig wieder her. Sowieso laufe vieles falsch, nicht nur «mit diesem EU-Zeugs». Und wenn jemand Suizid verüben möchte, tue er das – egal ob er eine Waffe habe oder nicht. Und ja, diese Umweltauflagen seien ein Problem. Könne schon sein, dass es irgendwo einer Kuh nicht so gut gegangen sei, nachdem sie im Zielhang gegrast habe, aber es gehe hier ja um etwas anderes. Um die Freiheit.

Aus Liebe zur Heimat

Blätter wirbeln durch die Luft. Der Föhn bläst so fest, dass es für die SchützInnen schwierig wird, den Arm stillzuhalten. Ein Vorteil für jene, die frühmorgens, als es noch relativ windstill war, geschossen haben. Der beste von ihnen, Raphael Imholz aus der Gastgebersektion Altdorf-Erstfeld, wird am Ende des Tages als Sieger dastehen und die Bundesgabe – einen Gutschein für eine P49-Pistole – erhalten.

Kaum ist die 13 620. und letzte Kugel abgefeuert, wird bereits abgebaut. Neben dem äussersten Kugelfang liegen Geschosssplitter auf dem Boden. Während die Blasmusik Seedorf aufspielt, werden die Geschossrückstände vom Boden und aus den sogenannten Schnecken mit Industriestaubsaugern aufgesaugt, bevor der Wind alles verbläst. Die vollen Staubsaugersäcke kommen zur Auswertung ins Labor.

An einem mit Stechpalmen verzierten Rednerpult hält Janett eine weitere Rede. Mit Blick auf die versammelten Sektionen, den Vierwaldstättersee und die beiden Mythen spricht er staatsmännisch und dreisprachig vom Bekenntnis zur Heimat und eidgenössisch freundschaftlicher Verbundenheit. Er gratuliert Parteikollege Josef Dittli zur «glanzvollen Wiederwahl», bedankt sich bei den SchützInnen und der Armee, «ohne die so ein Anlass kaum mehr durchführbar wäre».

Im Gedenken an die im letzten Jahr verstorbenen Kameraden spielt die Blasmusik ein trauriges Stück. Dächlikappen und Jägerhüte werden gezogen, die Fahnen nun waagrecht gehalten. Die Männer an den Industriestaubsaugern unterbrechen ihre Arbeit und nehmen sie erst wieder auf, als Janett die Schützengemeinde eröffnet, an der jedoch niemand einen Antrag stellt. Es ist alles gut, so wie es ist.

Und während oben auf der Wiese weitere patriotische Bekundungen zusammen mit dem Föhn ins Mikrofon geblasen werden, legt unten am See ein Schiff ab. Sein Name: Europa.