Wichtig zu wissen: Doppelmenschen

Nr. 44 –

Ruedi Widmer verwechselt mal wieder so einiges

Öfter als auch schon denke ich über das Älterwerden nach. Man weiss als Mensch in der Lebensmitte viel mehr, als man als Jugendlicher gewusst hat, gleichzeitig liegt es aber auch in der Natur der Sache, viel mehr wissen zu müssen. Man ist ja nicht um die drei Viertel des Wissens, die einem in der Jugendzeit noch fehlten, gescheiter geworden, sondern es kommt auch alles dazu, was in der Zwischenzeit zum Weltwissen gestossen ist.

Zum Beispiel weiss ich peinlicherweise bei den Schweizer Bands Dachs und Hecht noch immer nicht, welche der beiden welche ist. Eine ist aus meiner Sicht auf jeden Fall besser als die andere. Als ich jünger war, gab es wahrscheinlich Ältere, die Blur und Pulp nicht voneinander unterscheiden konnten, Dead Can Dance und Dead or Alive oder die Beastie Boys und die Pet Shop Boys. Es gibt diese Ähnlichkeiten, die meist wenig mit dem Kern einer Sache zu tun haben, sondern mit einem Gefühlskomplex, der durch optische und sprachliche Reize, Vorurteile und Halbwissen gespeist wird. Als kürzlich der Stromliniendesigner Luigi Colani starb, merkte ich, dass ich den eigentlich immer irgendwie mit dem Synthesizerkomponisten Giorgio Moroder verwechselt hatte. Das liegt vermutlich an ihren Schnäuzen, den siebziger Jahren und der eigentümlichen Verbindung von Deutsch und Italienisch (Colani ist Deutscher, Moroder Südtiroler, der Deutsch spricht und in München wirkte). Wenn ich an Moroder dachte, konnte ich gleichzeitig unmöglich an Colani denken und umgekehrt, weil diese beiden Personen auf eine Art dieselbe waren. Es kommt darauf an, von welcher Seite her man an sie denkt; entweder von der Musik oder der Gestaltung her.

Es passiert aber noch Bedenklicheres in meinem Gehirn. So sehe ich im öffentlichen Raum oft ungewollt MitbürgerInnen, die «jemand sind». Da kommt Hans-Dietrich Genscher, an jenem Tisch sitzt Mark Zuckerberg, weiter hinten Til Schweiger, Ruth Dreifuss, Johnny Depp, Alice Schwarzer, Jimmy Carter, Paul Accola, Corine Mauch, Ursula von der Leyen. Die Assoziationsintensität verstärkt sich zudem, wenn ich eben gegessen habe, durch den Blutentzug im Gehirn. Starren ist nicht nötig, es reicht meist ein Bruchteil einer Sekunde; manchmal ist es nur wegen eines Zuckens, eines Lippenspiels, einer Augenfalte.

Ich habe vor einiger Zeit eine Bildreihe des ehemaligen französischen Aussenministers Laurent Fabius gemacht, dessen Gesicht assoziativ sehr umfangreich ist. Ich kombinierte fünf verschiedene Fotos von ihm mit Fotos anderer Männer, an die mich Fabius auf dem jeweiligen Bild erinnert: Filippo Leutenegger, Peter Sauber, Benjamin Netanjahu, Wladimir Putin und Oskar Lafontaine. Das ist sehr irritierend. Wegen Fotorechten kann ich das hier in der WOZ nicht abbilden; ich werde es aber auf meinen Facebook-Account laden.

ThüringerInnen haben zu 24 Prozent die Faschisten gewählt. Es gab zwar schon in den Siebzigern die Republikaner, die von erschreckend vielen gewählt wurden. Allerdings nicht im Osten, dort wurde immer der Sozialismus gewählt. Die Faschisten waren ausschliesslich im Westen; Genscher, Kohl, Schmidt, so damals die landläufige Meinung in Erfurt, Dresden und Karl-Marx-Stadt. Der AfD-Parteileiter Alexander Gauland war übrigens in den Hochzeiten von Moroder und Colani ein eher unscheinbarer und schnauzloser CDU-Politiker in Frankfurt. Seine Kleider stammen auch noch aus dieser Zeit. Wohl hatte er damals keine Lesebrille, aber seit er eine auf der äussersten rechten Nasenspitze trägt, darf man Lesebrillen nicht mehr so weit nach unten schieben, sonst wird man für seine Mitmenschen zu «ihm». Gauland verwechselt übrigens nie jemanden. Während ich manchmal nicht weiss, ob Alice Weidel Beatrix von Storch ist oder umgekehrt, würde Gauland natürlich nie Höcke mit Hitler verwechseln; nein, es gibt für ihn null Gemeinsamkeiten zwischen den beiden.

Ruedi Widmer ist Satiriker Renato Kaiser und Cartoonist in Winterthur.