Edward Snowden: Wer hat denn nichts zu verbergen?

Nr. 47 –

In seiner Autobiografie liefert Edward Snowden keine spektakulären neuen Enthüllungen. Dafür ist «Permanent Record» ein lesenswertes Plädoyer für Privatsphäre und Grundrechte.

Wie veröffentlicht ein regierungstreuer Mensch Staatsgeheimnisse? Edward Snowden als Projektion an der «Web Summit»-Konferenz in Lissabon. Foto: Henrique Casinhas, Getty

Vor etwas mehr als sechs Jahren enttarnte der Whistleblower Edward Snowden den gigantischen Überwachungsapparat der US-Geheimdienste. Das System, das er mit seinem Insiderwissen aufdeckte, erlaubt es, die digitale Kommunikation weltweit abzuhören, zu durchforsten, zu speichern und zu analysieren. Snowdens Enthüllungen führten dazu, dass er nach einer filmreifen Flucht via Hongkong in Moskau strandete und seither in Russland im Exil lebt. Im Buch «Permanent Record» erzählt er seine Geschichte.

Folgenschwere Entscheidung

Eines vorweg: Wer sich von dieser Autobiografie brisante neue Enthüllungen erhofft, wird enttäuscht werden. Snowden beschreibt keine Methoden oder Programme, die nicht bereits bekannt waren – im Gegenteil, vieles davon ist heute Standard. Auch der vom «Tages-Anzeiger» hochstilisierte Bericht über seine Zeit in Genf birgt keine neuen Erkenntnisse. Ausführlich plaudert Snowden über seine Kindheit und Jugend als Mitglied einer Familie, die Militär und Geheimdienst nahestand und von den Anschlägen vom 11. September 2001 durchgeschüttelt wurde. Er schildert seine ersten Kontakte mit Spielkonsolen und Computern und blickt immer wieder reichlich verklärt auf das mittlerweile verschwundene anonyme Internet zurück.

Indem er sein Leben nachzeichnet, macht er nachvollziehbar, wie ein eher konservativ eingestellter, regierungstreuer Mensch dazu kam, geheime Informationen an die Öffentlichkeit zu tragen – und damit gleichzeitig seine Freiheit aufzugeben. Snowden beschreibt keinen klar definierten Moment der Erleuchtung, in dem ihm die Wahrheit über die Machenschaften der Geheimdienste quasi wie Schuppen von den Augen fiel. Eher erkennen wir, wie er immer stärker mit dem zusammengetragenen Wissen und seinem Gewissen hadert. Wie er immer mehr Details erfährt und miteinander verknüpft und dann irgendwann eine folgenschwere Entscheidung fällt.

Am ehesten zu einem entscheidenden Scharnier wird in Snowdens Beschreibung das Überwachungsprogramm XKeyscore. Damit konnte der US-Auslandsgeheimdienst NSA dank Metadaten und Stichwortsuche die komplette Onlinekommunikation der Welt durchforsten und speichern. Eine Möglichkeit, die nicht «bloss» zur Beobachtung mutmasslicher Terroristen genutzt wurde: NSA-Angestellte schnüffelten damit auch gern ihren Geliebten nach oder tauschten «eroberte» Nacktbilder von Fremden und Bekannten untereinander aus.

Abseits demokratischer Kontrolle

Gerade weil die staatliche Massenüberwachung seit 2013 noch viel grössere Ausmasse angenommen hat, sieht sich Snowden nun verpflichtet, erneut darauf aufmerksam zu machen. Er wolle Menschen dazu bringen, ein Buch über Überwachung zu lesen, sagte er im Interview mit dem «Tages-Anzeiger». «Da hilft Personalisierung», meinte er – und irrte sich nicht: Sein Buch landete umgehend auf den Bestsellerlisten.

Zu hoffen ist, dass für die LeserInnen das Persönliche das Inhaltliche nicht überstrahlt. Denn lehrreich ist das Buch vor allem, weil es plastisch nachzeichnet, wie die USA nach dem 11. September etwa mit dem «Patriot Act» unbeirrt Grundrechte aushebelten, um vermeintlich Sicherheit zu schaffen. Eine Entwicklung, die auch in Europa Einzug hielt. Unter dem Deckmantel des «Krieges gegen den Terror» wurde der Überwachungsstaat massiv ausgebaut und erhielt mit der Auslagerung von Aufträgen an Privatfirmen – bei denen Snowden unter anderem angestellt war – eine neue Dimension abseits demokratischer Kontrolle. Die Bevölkerung bezahlte also mit ihren Steuergeldern die eigene Totalüberwachung und wurde zudem von Regierung und Parlament konsequent angelogen. Gerade jene, die Snowdens Enthüllungen bis jetzt nicht im Detail mitverfolgt haben, erhalten hier einen guten Überblick über die bis heute praktizierten Methoden.

Anschaulich legt Snowden auch dar, wie unsere Privatsphäre kontinuierlich mit dem Argument vernichtet wurde, dass nur jene etwas befürchten müssten, die etwas zu verbergen hätten. Diesem verirrten Denken hält Snowden ein Plädoyer für Freiheit und Privatsphäre entgegen und zeigt auf, was es bedeutet, wenn es von uns allen einen «permanent record» – eine dauerhafte Aufzeichnung – gibt: Nicht nur übertreten wir alle ab und zu das Gesetz, wir haben auf unseren diversen Geräten auch vieles, was den Staat schlicht nichts angeht – selbst wenn er es nicht gegen uns verwenden will. Den einzigen Ausweg sieht Snowden in der konsequenten Verschlüsselung von Daten, um den staatlichen Zugang zu Informationen wenigstens zu erschweren.

Unterdessen ganz legal

Während zu den von Snowden beschriebenen Zeiten die Überwachung illegal und im Geheimen geschah und von staatlicher Seite abgestritten wurde, ist sie mittlerweile ganz legal: Es gibt gesetzliche Grundlagen und Aufträge. Gerade die Schweiz hat dabei das ganze Arsenal im Angebot, das Snowden an den Pranger stellt: eine sechsmonatige Speicherung aller Verbindungs- und Metadaten aus Internet und Mobilfunk; Kabelaufklärung von Onlinekommunikation anhand von Stichworten; Staatstrojaner, mit denen sich unsere Geräte ausspionieren lassen.

Snowdens Autobiografie liefert also nicht einfach eine Nacherzählung längst vergangener Machenschaften, sondern ist weiterhin hochaktuell. Der Wert von Datenschutz und das Recht auf Privatsphäre sind mittlerweile so stark erodiert, dass wir unsere Daten sogar freiwillig hergeben und unseren je eigenen «permanent record» immerfort mit neuen Informationen füttern.

Edward Snowden: Permanent Record. Meine Geschichte. Fischer Verlag. Frankfurt am Main 2019. 432 Seiten. 30 Franken