Ein Traum der Welt: Deutsch als Kleinsprache
Annette Hug freut sich auf unheimliche Fachkräfte
Eine Studentin, die im Nebenfach Deutsch belegt, verspricht mir eine virtuelle Taufe. So sitze ich vor einem Bildschirm mit Kamera und werde gefilmt. Eine Gesichtserkennungssoftware verwandelt mein Gesicht in eine Maske, die meine Grimassen auf dem Bildschirm stilisiert wiedergibt. So könne ich das Geschlecht, die Klasse, die Nationalität und das Alter ablegen, sagt die Studentin. Sie präsentiert ihre Abschlussarbeit im Hauptfach Visuelle Kommunikation. 200 Werke sind im Kunstmuseum der Hongik-Universität zu sehen. Nicht wenige StudentInnen begrüssen die Gelegenheit, auf Deutsch oder Französisch über ihr Werk zu sprechen. «C’est la nostalgie», sagt eine Studentin wiederholt, die sich ihrer Fanvergangenheit widmet. Auf einem Kleinstbildschirm zeigt sie Filmchen von früher – und gleich gegenüber einen aggressiven Zusammenschnitt der bewunderten K-Pop-Band, die inzwischen in einem Sexskandal untergegangen ist. Nostalgie weckt allerdings nicht die Musik oder der Fankult, sondern die technische Seite der Arbeit. Schon fünf Jahre alte Filmchen waren nicht mehr zu sichern. Ihre eigenen Teenagerjahre entpuppten sich als digitale Urzeit. Die Filmchen, die ich auf dem Kleinstbildschirm betrachte, sind nachgestellt.
Deutsch und Französisch waren in Südkorea einmal wichtige Fremdsprachen. Ein Heer von HighschoollehrerInnen wurde dafür ausgebildet. Das ist vorbei. Die Germanistikdepartemente sind dramatisch geschrumpft. Heute wählen die SchülerInnen als zweite Fremdsprache nach Englisch entweder Chinesisch oder Japanisch. Aus sehr verständlichen Gründen. Ein Lektor spricht vom «Sinkflug der Germanistik». Bald werde er mit Französisch und Russisch zu «European Studies» fusioniert. Im schlimmsten Fall werden Kleinsprachen wie Deutsch ganz abgeschafft, fürs Fachliche soll in Zukunft maschinelle Übersetzung reichen, alles andere sei Luxus, geben besonders rabiate Verwaltungen bekannt. Dagegen stemmen sich die Lehrkräfte und die verbliebenen StudentInnen. Sie erhalten Unterstützung von den Regierungen der deutschsprachigen Länder. Die werben hier nämlich um Fachkräfte. Das Nebenfach Deutsch soll als Vorbereitung auf ein Masterstudium in Deutschland, der Schweiz oder Österreich dienen. Am liebsten hätte man Ingenieurinnen und Informatiker. Auch TheologInnen kommen. Bei einigen StudentInnen habe ich allerdings den Verdacht, dass es umgekehrt sein könnte: Zuerst ist da ein grosses Interesse an Literatur und Philosophie in deutscher Sprache. Um nach Deutschland zu kommen, muss man aber Fachkraft werden, also einen Studiengang wählen, der dann auch ein Auskommen und eine Arbeitsbewilligung ermöglicht.
Während die Maske, in der ich getauft werde, Grimassen schneidet, spreche ich mit der Studentin über den Schriftsteller Robert Musil. Der Held seines Romans «Der Mann ohne Eigenschaften» hatte davon geträumt, allen gesellschaftlich geprägten Merkmalen seiner Person zu entkommen. An einen solchen Traum möchte sie anknüpfen, sagt die Studentin, aber in den vergangenen Wochen habe sie vor allem an Hongkong gedacht: Da werde die Software, die sie verwende, gebraucht, um verfremdete Gesichtsmasken herzustellen. Die Überwachungskameras könnten diese «Gesichter» dann nicht mehr erkennen, das sei wichtig für den Schutz der DemonstrantInnen.
Annette Hug ist Autorin in Zürich. Sie erfährt an südkoreanischen Unis, wie deutschsprachige Migrationsbehörden das Verständnis für Franz Kafka fördern.