Ein Traum der Welt: Sprechen, Wiehern, Texten
Annette Hug zu Besuch in der Zukunft
«Houyhnhnm» lautet das Motto der Buchmesse Seoul 2024. Beim letzten Besuch in Korea, im Herbst 2019, merkte ich mir «Gwanghwamun», das ist der Name eines grossen Platzes. Als historischer Ort von Massendemonstrationen zur Rettung der Demokratie hat er einen guten Klang.
«Houyhnhnm», stellt sich heraus, ist gar nicht Koreanisch. Jonathan Swift hat diesen Namen erfunden. Im Roman «Gullivers Reisen zu mehreren Völkern der Welt» (1726) bezeichnet er eine Art hochentwickelte Pferde. Die Vernunft durchdringt sie vollkommen, deshalb leben sie in ewigem Frieden. In der deutschen Übersetzung von Franz Kottenkamp (1843) heissen sie Hauyhnhnms. Sie halten sich sogenannte Yähus, im englischen Original «yahoos»: menschenähnliche Wesen, die ganz von Gier und Boshaftigkeit getrieben sind. Ob man sie vernichten sollte, ist eine der wenigen offenen Fragen an monatlichen Versammlungen, die sonst immer in vernünftiger Eintracht enden. Lemuel Gulliver ist als Schiffbrüchiger im Land der Hauyhnhnms gelandet und gilt als Sensation: ein Yähu, der Anzeichen von Vernunft zeigt! Sie lassen ihn fünf Jahre bleiben, setzen ihn dann aber auf dem Meer aus. Angeborene Bösartigkeit plus Vernunft ist eine gefährliche Kombination.
Die Organisator:innen der Buchmesse Seoul versehen das Motto mit Hinweisen auf aktuelle Kriege und den drohenden Klimakollaps. Wobei sie optimistisch auf Roboter und menschlich-maschinelle Hybride verweisen: Sie scheinen an die Optimierbarkeit der Spezies zu glauben, an die mögliche Entwicklung friedfertiger Androiden. Soweit ich die ausgelegten Bücher und die anwesenden Autor:innen und Künstler:innen verstehe, überwiegen jedoch düstere Szenarien und ökologische Idyllen.
Ausgerechnet Suh Yosung, der zwei meiner Romane ins Koreanische übersetzt hat, sieht den Ersatz menschlicher Sprache durch maschinelle Codes gelassen. Dass er sieben Jahre seines Lebens dem Deutschlernen gewidmet hat, scheint er zu bedauern. Das war 2019 noch anders. Damals stand er dem Institut für Germanistik an der Daegu-Universität vor, einer auf praxisorientierte Studiengänge spezialisierten Hochschule im industriellen Süden des Landes. Deutsch wurde gerade mit Französisch und Russisch zu «Europäischen Studien» fusioniert. Die einleuchtende Erklärung lautete: Früher lernten an Mittelschulen alle Schüler:innen Englisch und als zweite Fremdsprache Französisch oder Deutsch. Also brauchte es Tausende von Germanist:innen. Mit den globalen Verschiebungen wurden Chinesisch und Japanisch beliebter als Deutsch. Im Sommer 2024 erzählt mir Suh Yosung von der neusten Fusion: «Europäische Studien» ist mit Chinesisch und Englisch zu einem Departement «Kultur und Kunst» zusammengeschlossen worden. Im Zeitalter von Google Translate wolle niemand mehr Sprachen lernen. Der Aufwand leuchte einfach nicht ein.
Da fliehe ich in den Text von Jonathan Swift und lese mit Wehmut, wie sich Lemuel Gulliver bemüht, die Sprache der edlen Pferde zu lernen. Das seltsame Motto der Buchmesse katapultiert mich unverhofft nach Hause: «Die Hauyhnhnms sprechen hauptsächlich durch die Nase und die Kehle. Ihre Sprache kommt von allen europäischen, die ich kenne, dem Hochdeutschen am nächsten, sie ist aber bei weitem zierlicher und ausdrucksvoller.»
Annette Hug ist Autorin und Übersetzerin. Die Einladung nach Korea finanziert ihr einen Arbeitsbesuch in Manila. Komplikationen in drei Übersetzungsprojekten erfordern persönlichen Austausch.