Ein Traum der Welt: Erinnerung an Hongkong

Nr. 6 –

Annette Hug hört ein revolutionäres Lied

Ein bedrohliches Grundrauschen an Nachrichten kommt aus jenem Meer, das die Südküste Chinas mit Vietnam und den Philippinen verbindet. Chinesische Wasserkanonen beschiessen philippinische Fischkutter, die südostasiatische Allianz steht, China baut künstliche Inseln aus, die US-Marine führt Manöver durch, und jetzt schickt auch noch Italien einen Flugzeugträger, die «Cavour». Gebannt und abgestossen von diesem Vorkriegsticker, habe ich mich am Wochenende auf Youtube verloren.

Ein französisches Musical behauptet Hoffnung auf allen Seiten des Südostasiatischen Meers: «Les Misérables», 1985 erstmals auch in London aufgeführt, ein jahrelanger Hit am Broadway in New York und 2012 von Tom Hooper monumental verfilmt. Wenn man den Namen des Helden Jean Valjean in breitem Englisch ausspricht, reimt er sich auf das «one» der Häftlingsnummer 24 601. Das Drama dieses Elenden, der mit übermenschlicher Güte und Kraft die Aufständischen im Juni 1832 verstärkt, macht im 21. Jahrhundert Furore. Da bleibt nichts von kleinlicher, innereuropäischer Konkurrenz. «Take your chance! Vive la France!», singen die Revolutionär:innen auf einer adrett aufgebauten Barrikade.

Auf Youtube sind chinesische Versionen des berühmtesten Songs zu hören, der auf deutschen Bühnen mit folgenden Zeilen beginnt: «Hört ihr, wie das Volk erklingt, von unsrer Wut erzählt der Wind.» In einem Video aus Hongkong bewegen sich Demonstrant:innen mit Gasmasken im Tränengasnebel und schützen sich hinter gelben Regenschirmen. Ein geisterhaftes Ballett. Bis 2019 haben an den Demos für Demokratie und Eigenständigkeit manchmal Tausende gesungen: «Do you hear the people sing, this is the song of angry men.»

In der Volksrepublik soll das Lied zensiert sein, obwohl der 1862 beendete Roman «Les Misérables» von Victor Hugo auf der Liste von Präsident Xi Jinpings Lieblingsbüchern steht. Auf Youtube findet sich auch ein sehr schöner Zusammenschnitt von Filmauszügen, der den Weg vom chinesischen Kaiserreich in die republikanische Zeit nachzeichnet: Mehrere Aufstände kulminieren in der studentischen Bewegung des 4. Mai 1919 und im Aufbau der kommunistischen Partei, sagen die Untertitel, musikalisch untermalt von ebenjenem Song aus «Les Miz», wobei die chinesische Übersetzung deutlicher als andere die Ausbeutung der Elenden anprangert und den Umsturz der «Wege der Welt» vorhersagt.

Besonders berührend ist eine philippinische Version dieses Lieds aus der Regierungszeit von Rodrigo Duterte (2016–2022). Sie zeigt vereinzelte Sänger:innen vor ihren Bildschirmen. Der Text, den sie gemeinsam singen, ist leicht umgeschrieben: Die Wut des Volkes richtet sich gegen Lügenpropaganda. Im Video ist auch das Bild eines ärmlichen Kutters vor einem Kriegsschiff eingeblendet; ein Hinweis auf die Drohkulisse vor der Küste. Das Video steht für die Hoffnung, dass auf Rodrigo Duterte eine linke oder linksliberale Regierung folgen würde. Jetzt ist der Sohn des ehemaligen Diktators Ferdinand Marcos an der Macht. In Hongkong werden weiterhin Demokratieaktivist:innen verurteilt, in den finanziellen Ruin und ins Exil getrieben.

Am 6. Juni 1832 überrannten Soldaten in Paris die letzte Barrikade und erschossen fast alle Aufständischen. Victor Hugo schrieb davon bereits im Wissen, dass 1848 die nächste Revolution folgen würde.

Annette Hug ist Autorin in Zürich und empfiehlt den Song «Di niyo ba naririnig?» auf Youtube, produziert von den Voyage Studios.